© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

Moderner Nomadismus
DVD: Die rote Wüste
Martin Lichtmesz

Die "lähmenden Filme von Michelangelo Antonioni", urteilte einst Armin Mohler, seien eine "Kunst des Lochs": sie handeln "stets von verschwundenen Menschen, nicht vorhandenen Dingen und nie zustandegekommenen Situationen".

Selten liest man so kritische Worte über das inzwischen kanonisierte Werk des hochbetagten Meisterregisseurs (Jg. 1912). Da gerade Cineasten notorisch revisionsunwillig sind, lohnt sich eine kritische Wiederbegegnung mit Antonionis Filmen. Der cinephile Verlag "Arthaus" hat nun seinen klassischen ersten Farbfilm auf DVD wieder zugänglich gemacht. Jahrelang war "Die rote Wüste" aus dem Jahr 1964 nur in verblichenen Kopien zu sehen.

Nun erstrahlt der frisch restaurierte Streifen wieder in seiner alten Pracht, von der auch die DVD nur eine Ahnung geben kann. Denn Antonionis Stärke lag vor allem in seiner visionären Bildgestaltung. In "Die rote Wüste" verwandelte er ein norditalienisches Industriegebiet in eine surreale Mondlandschaft, in der düstere Fabrikanlagen wie futuristische Monstren ein bösartiges Eigenleben zu führen scheinen. Antonioni verfremdete die Gegenwart durch eine beklemmende Science-Fiction-Atmosphäre. Eine heute eher drollig wirkende elektronische Musik sorgt für einen bizarren "Ufo"-Effekt.

"Außerirdisch" in einem gewissen Sinne fühlt sich auch die von Monica Vitti dargestellte junge Industriellengattin, die in einem Dauerzustand von latenter Psychose durch das enigmatische Niemandsland des Films irrt. Kalkweiß und mattrot gestrichene Häuserreihen säumen menschenleere Straßen. Ein stählerner Schlot speit gelbe Stichflammen in den trüben Himmel, ein riesiges Transportschiff scheint mitten durch ein kleines Wäldchen hindurchzufahren, und der Nebel fällt mitunter so dicht, daß die Menschen in ihm verschwinden.

Vittis kleiner Sohn spielt mit einem gruseligen Spielzeugroboter, der im Kinderzimmer mechanisch auf und ab schreitet. Vitti erzählt dem Kind eine merkwürdige Gutenachtgeschichte von einem Mädchen in einer idyllischen blauen Lagune (die einzige Szene des Films mit Sonnenlicht): plötzlich habe dort "alles, alles gesungen". Eine pantheistische Gegenvision zur entzauberten Industriewelt?

Nicht nur in dieser Szene strapaziert Antonioni die Grenze zum existentialistischen Kitsch. Seine bierernste Entfremdungsästhetik hat zuweilen etwas Verschmocktes, Miesmacherisches, verdankt sich allzu sehr den modischen Strömungen seiner Zeit. Jedoch findet sich in Antonionis Filmen auch ein gutes Stück konservativer Kulturkritik: selten hat ein Regisseur die zerstörerischen Folgen des modernen Nomadismus intensiver dargestellt. Während Antonioni gleichzeitig in Interviews das Fortschreiten der "schönen neuen Welt" und die zunehmende Entortung als Erlösung pries, zeigten seine trostlosen Filme das krasse Gegenteil: entwurzelte, identitätsgeschädigte Individuen, unfähig zur Liebe und zu sinnstiftenden Bindungen, die rettungslos in der "Totalherrschaft der Gegenwart" (Botho Strauß) gefangen sind.

DVD-Titel "Die rote Wüste"


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