© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/06 21. Juli 2006

Aus dem Alptraum erwachen
Sechzig Jahre nach dem Untergang der Barockstadt Dresden: Eine Ausstellung sucht nach dem Mythos der Elbmetropole
Paul Leonhard

Was macht Dresden aus? Da ist die Elbe mit den sie säumenden breiten Wiesen. Auf ihnen kann man träumend liegen und auf die Brühlsche Terrasse blicken mit der Kunstakademie, dem Albertinum und seinen Kunstschätzen. Da ist die wie durch Zauberhand wiedererstandene barocke Frauenkirche George Bährs, von älteren Dresdnern noch immer "unser Dom" genannt. Da ist das ehemalige Residenzschloß mit der katholischen Hofkirche, ist der Zwinger mit der Sempergalerie, ist die Semperoper. Da sind die Dampfer-Oldtimer, mit denen man zum Schloß Pillnitz und weiter in die Sächsische Schweiz fahren kann, wo die Festung Königstein grüßt. Oder in die andere Richtung, flußabwärts nach Meißen.

Und da ist der 13. Februar 1945. Dresdens Schicksalstag. An ihm endet eine Zeitrechnung und beginnt eine neue. Dresden ist nicht wiedererstanden wie Phönix aus der Asche. Das Stadtzentrum der alten Residenzstadt ist in einer einzigen Nacht durch alliierte Bomben ausgelöscht worden. Unwiederbringlich verschwunden. Aber das spricht in der Elbestadt so deutlich niemand aus.

Daß Dresden noch heute eine Barockstadt ist, gehört zu den Legenden, die die Bewohner der sächsischen Landeshauptstadt seit Ende des Zweiten Weltkrieges pflegten. Zwar wurde der höfische Barock des Pöppelmannschen Zwingers nach 1945 originalgetreu wieder aufgebaut, sind die herausragendsten Kulturbauten weitgehend originalgetreu wiedererrichtet worden, vom bürgerlichen Barock künden aber nur noch ein paar Straßenzüge in der Inneren Neustadt und der Friedrichstadt. Vielleicht liegt darin die Leidenschaft begründet, mit der die Dresdner Fremden immer wieder versichern, wie schön ihre Stadt doch ist. Klaus Vogel, Direktor des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, verwundern diese Beteuerungen, denn die meisten Gäste hätten die Schönheiten der Stadt doch längst erkannt. Aber was weiß der gebürtige Schwabe Vogel schon von den Befindlichkeiten der Ur-Dresdner, von ihrem Alptraum und ihrem heimlichen Wunsch, eines Tages zu erwachen und das zum Mythos stilisierte alte Dresden der Vorkriegszeit plötzlich wieder vorzufinden.

Drei Wochen nach der Zerstörung erinnert Rudolf Spaning in einem Artikel im Reich unter der Überschrift "Der Tod von Dresden" an das Verlorene. An den berühmten Striezelmarkt Ludwig Richters und die Stätten von Kügelgens Jugenderinnerungen. Das Ziel der Alliierten sei es gewesen, Deutschland "durch Massenmord zur Kapitulation zu zwingen": "Dresden übte eine Treuhänderschaft über all das aus, es war ein von dieser Stadt gehüteter abendländischer Gemeinbesitz." Das historische Dresden gelte es ab jetzt in den Herzen zu bewahren.

Aus Anlaß des 800jährigen Stadtjubiläums in diesem Jahr hat das Deutsche Hygiene-Museum mit einer Sonderausstellung den Versuch gestartet, den die sächsische Metropole seit Jahrhunderten umgebenden Mythos näher zu beleuchten. Auf 1.200 Quadratmetern sind Bilder und Visionen versammelt, werden historische Ereignisse erzählt und über Persönlichkeiten berichtet, die die Stadt geprägt haben. Wer sich mit Dresden beschäftigt, entdeckt zwei immer wieder kehrende Motive: die prunkvolle, kunstsinnige Stadt des Barock und ihre Zerstörung in der Nacht zum 14. Februar. Zwischen diesen Extremen entfaltet die Ausstellung "Mythos Dresden. Eine kulturhistorische Revue" die vielfältigen Aspekte dieses Mythos, aus dem die Stadt bis heute ihre Identität und die Kraft zur Erneuerung bezieht. Dresden und seine Menschen zeichnet Beharrungsvermögen, Kreativität und Erfindungsgeist aus - Eigenschaften, die immer wieder auch zeitgenössisches und Experimentelles hervorbringen.

Von Luftschlössern zu Lustschlössern

In fünf poetischen Bildern - Luftschlösser, Dionysisches Dresden, Musenort, Apokalypse, Metamorphosen - zeigt die Ausstellung eine facettenreiche und in dieser Breite noch nie dargestellte Zusammenschau dessen, was den Mythos Dresden bis heute ausmacht. Eine dramaturgisch rhythmische Abfolge von Räumen führt den Besucher von der barocken Residenz August des Starken über die Kunst- und Kulturstadt des 19. und 20. Jahrhunderts und die Ruinenlandschaft des 13. Februar 1945 bis hin zu der lebendigen Großstadt der Gegenwart, zu der sich Dresden inzwischen gewandelt hat.

Zu sehen sind nie realisierte Architekturvisionen. Wie hätten diese das Gesicht der Stadt verändert, fragen die Ausstellungsmacher. Gezeigt wird ein Entwurf von Matthäus Daniel Pöppelmann für ein neues Residenzschloß, das sich stark an Versailles anlehnt. Aber auch ein von Hans Poelzig, Dresdner Stadtbaudirektor von 1916 bis 1920, geplantes achtstöckiges Bankgebäude. Fragen kann sich der Besucher auch, wie das von Wilhelm Kreis entworfene Gauforum mit seiner 40 Meter hohen "Sachsenhalle" für 30.000 Menschen heute genutzt würde. Dank des Eingreifens des damaligen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf blieb auch eine von Frank Stella 1992 unmittelbar neben dem barocken Zwinger geplante Kunsthalle lediglich ein Projekt.

Von den Luftschlössern führt der Rundgang zu den Lustschlössern August des Starken. Um den sächsischen Kurfürsten und späteren König von Polen (ab 1697) ranken sich zahlreiche Anekdoten wie die vom zerbrochenen Hufeisen und den 365 von ihm gezeugten Kindern. Er erst formte aus dem noch mittelalterlich geprägten Dresden eine Metropole von europäischem Rang. Der Monarch ist Machtmensch, Visionär, Herzensbrecher, Herkules, Förderer des Handwerks und der Manufaktur. Während des augusteischen Zeitalters entstehen die Bauten, die die Stadt noch heute prägen: Zwinger, Hofkirche, Frauenkirche, Brühlsche Terrasse. Auch seine Neuorganisation der königlichen Kunstsammlungen wirkt bis heute nach.

Die Sammlungen locken bis heute nicht nur zahlreiche Touristen aus aller Welt an, sondern frühzeitig auch Künstler. "Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet; glücklich ist, wer sie findet und schmeckt. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen, und Dresden wird nunmehr Athen für Künstler", schreibt Johann Joachim Winckelmann 1755. Dresden ist ein Zentrum international bedeutender Kunstströmungen. Caspar David Friedrich erhebt hier das romantische Landschaftsbild zur eigenständigen Bildform (sein Landschaftspaß, der ihn zum Malen berechtigte, ist ausgestellt), Carl Maria von Weber komponiert im Elbtal den "Freischütz", die deutsche Nationaloper des 19. Jahrhunderts.

In der Elbestadt formiert sich aber auch die expressionistische Künstlergruppe "Die Brücke". Richard Wagner läßt in Dresden neun seiner Opern uraufführen. In Hellerau entsteht die erste deutsche Gartenstadt mit den Deutschen Werkstätten. In Dresden werden die Grundlagen für den modernen Tanz gelegt.

Apokalypse ist jener Teil der Ausstellung überschrieben, der sich mit der Zerstörung der Stadt beschäftigt. Während die umfangreichen Kasernenanlagen und auch die Bahnanlagen die drei Angriffe britischer und amerikanischer Luftverbände am 13. und 14. Februar 1945 weitgehend unbeschädigt überstehen, sind 15 Quadratkilometer Innenstadt zerstört. Rund 35.000 Menschen fallen dem Terrorangriff zum Opfer. Die barocke Kunststadt Dresden schien für immer ausgelöscht. "Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang von Dresden", schreibt der greise Dichter Gerhart Hauptmann am 29. März 1945. Und Erich Kästner notiert zwanzig Jahre nach der Zerstörung seiner Heimatstadt: "Den Untergang dieser Stadt schien sich der Satan als etwas Besonderes bis zum Schlusse aufgehoben zu haben."

Für die überlebenden Dresdner ist die Schicksalsnacht ein Trauma, dessen Eindrücke sie an ihre Kinder und Enkel weitergeben. Die Ruine der Frauenkirche wird in den 1980er Jahren zur Stätte der alljährlichen kollektiven Erinnerung. Aus dem stillen Gedenken erwächst aber auch der Widerstand gegen das SED-Regime.

Der Ausstellungsteil Metamorphosen erinnert an den mühsamen Aufbau nach Kriegsende und den Versuch der damaligen Stadtplaner, unter dem Motto "Dresden schöner denn je" radikal mit der alten Stadt zu brechen und eine neue, sozialistische Großstadt zu errichten. Während der Zwinger schon frühzeitig wieder aufgebaut wurde und das Schloß die kommenden Jahrzehnte als Ruine überdauerte, wurden weite Teile der Innenstadt rücksichtslos von den ausgebrannten Häusern beräumt. So verschwand die berühmte Prager Straße komplett und entstand als sozialistischer Vorzeige-Boulevard neu. Vollendet wurde sie allerdings nie. Gegenwärtig streiten Denkmalpfleger und Bürgerinitiativen für ihren Erhalt und gegen den Abriß des heute dem Karstadt-Konzern gehörenden Centrum-Warenhauses.

Die Dresdner hängen an ihrer Geschichte

"Dresden ist keine Stadt, Dresden ist eine Weltanschauung" hat der zur Zeit vom Dienst suspendierte Oberbürgermeister der Stadt, Ingolf Roßberg, einmal konstatiert. Und zu dieser Weltanschauung gehört das Beharren, das Festhalten an Bewährtem. Zum Mythos gehört, daß die Dresdner an der steingewordenen Geschichte hängen, mag der Stein auch Beton sein. Die schmerzliche Erfahrung, innerhalb weniger Stunden alles verlieren zu können, hat sich tief eingeprägt. Baulichen Veränderungen im Herzen der Stadt steht man skeptisch gegenüber und die in den vergangenen Jahren entstandenen Neubauten am Altmarkt oder die gegenwärtigen Umbaumaßnahmen am Postplatz oder die im Volksmund als "Hochbunker" bezeichnete fensterlose neue Synagoge geben den Skeptikern recht.

Fleißig haben die Ausstellungsmacher nach mythenbildendem Material für ihre "kulturhistorische Revue" gesucht. 726 Objekte haben sie zusammengetragen und 22 Film-, acht Hör- sowie fünf PC-Stationen eingerichtet. Seltenes Archivmaterial wurde einbezogen. Und doch läßt die Schau den Besucher hilflos zurück. Er hat eine Ansammlung von Gegenständen gesehen, tote Stücke aus einem Puzzle. Im Dresdner rufen sie Erinnerungen an selbst Erlebtes oder in der Familie erzählte Geschichten und Anekdoten hervor, zu dem Zugezogenen oder als Gast Gekommenen sprechen die Ausstellungsstücke jedoch nicht.

Den Mythos Dresdens, den Geist der Stadt, vermeint man lediglich im Begleitprogramm des Deutschen Hygiene-Museums zu spüren. Etwa wenn hier Dresdner Bürger diskutieren oder Dresdner Schriftsteller lesen. Wenn beispielsweise Thomas Rosenlöcher in seinem ursächsischen Tonfall über seine Stadt sagt: "Dresden ist der Entwurf einer Stadt, in der das Urbane und die Landschaft zueinander finden. Eine Stadt, die urban ist, lebendig ... und in der man von vielen Punkten aus die Landschaft im Blick hat." Dann beginnt auch der Fremde etwas zu spüren oder er bleibt ungerührt und empfindet wie 1826 Franz Grillparzer: "Die Sprache dieser Leute beleidigt mein Ohr."

Foto: Vor der beleuchteten Frauenkirche, 13. Februar 1983

Die Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum, Lingnerplatz1, ist bis zum 31. Dezember täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 6 Euro. Tel.: 03 51 / 4 84 66 70, Internet: www.dhmd.de 


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