© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/06 28. Juli / 04. August 2006

Wider die ökonomische Restauration
Der Bremer Ökonom Rudolf Hickel rechnet mit der deutschen Wirtschaftspolitik ab
Wilhelm Hankel

Es sollte Ferienlektüre für die Bundeskanzlerin, ihren Finanzminister und die zerstrittenen Granden des DGB sein. Rudolf Hickel, führender Linksökonom der Bremer Alternativökonomie, rechnet in seinem neuen Buch mit der deutschen Wirtschaftspolitik und -publizistik ab. Was sie prägt und leitet, ist die Verwechslung von Firmeninteresse mit dem Gemeinwohl. Massenentlassungen sind in Ordnung, wenn dadurch an der Börse übel vermerkte Gewinnwarnungen vermieden werden können.

Es ist schon merkwürdig: Da stirbt die Deutschland AG ab, wird offiziell zum Auslaufmodell erklärt, aber der Lobbyismus feiert als neoliberales Neu-Marktwirtschaftsdenken seine Wiedergeburt, sogar im Namen der Wissenschaft - und das hierzulande wie nirgendwo auf der Welt, nicht einmal den USA, dem Kernland des Shareholder Value.

Hickel zeigt die Hintergründe der neuen Glücksritterökonomie auf. Er macht vor allem deutlich, mit welch monströsen Fehl- und Vorurteilen sie begründet und von ihren willfährigen politischen Vollstreckern in allen Farbkonstellationen, von Schwarz-Gelb über Rot-Grün bis hin zur schwarz-roten Gegenwart, in die miserabelste Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit umgesetzt worden ist. Und es dank Frau Merkel auch weiterhin wird.

Eines freilich verschweigt unser ökonomischer Ritter ohne Fehl und Tadel, wie übrigens alle Linksökonomen und -politiker, gleichviel ob regierend oder in der Opposition (wie leider auch die FDP): wo die letzte Ursache und Quelle der anhaltenden Wirtschafts- und Sozialmisere in Deutschland zu suchen ist. Sie liegt in der EU und geht auf die Einführung des Euro zurück. Erst die Abschaffung der monetären und weitgehend auch der fiskalpolitischen Souveränität durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam hat die deutsche Wirtschaftspolitik entmannt und zur untertänigen (Be)Dienerin von Firmen- und Exportinteressen verdammt. Dieses Kapitel fehlt bei Hickel.

Dennoch sind die anderen lesenswert. Hickel räumt mit drei die heutige Wirtschaftspolitik leitenden Fehlvorstellungen auf: Erstens ist Deutschland keine konkurrenzuntüchtige "Basar-ökonomie", wie ein von seinen Sinnen verlassener ifo-Präsident unentwegt und im Interesse seiner an einer Niedrig-lohnökonomie interessierten Sponsoren behauptet. Zweitens ist Deutschlands Steuerbelastung nicht zu hoch, wohl aber grundfalsch und unsolidarisch verteilt, weswegen es nicht darum geht, jetzt ein "duales" Steuersystem zu schaffen, in dem die größte Nicht-Steuerzahlergruppe, die global operierenden Großkonzerne, noch weniger zur Kasse gebeten wird als bisher, sondern ein gerechtes und effizientes. Und drittens stellt sich am Arbeitsmarkt nicht das Problem, das vom Grundgesetz garantierte Tarifsystem noch weiter zu durchlöchern (zu "verbetrieblichen"), sondern das in dieser Krise verlorengegangene Gleichgewicht zwischen übermächtigen Arbeitgebern und ohnmächtigen Arbeitnehmern wiederherzustellen. Es ist grotesk, aber wahr: Obwohl die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögensbesitz boomen und die Arbeitsentgelte - und erst recht die Arbeitslosenentgelte - ständig weiter sinken bzw. gesenkt werden, wird amtlicherseits nicht etwa an wachstums- und beschäftigungsfördernde Investitionsprogramme gedacht; das auf vier Jahre verteilte Programm einschließlich Familienhilfen von 25 Milliarden Euro stellt lediglich ein Tröpfchen auf den heißen Stein dar. Stattdessen stehen weitere Entrechtungsmaßnahmen für Arbeitnehmer und Arbeitslose auf der Agenda. Aber auch den Gewerkschaften fällt nicht gerade Zündendes und Innovatives für eine moderne Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsförderung ein.

Hickel hat in allen drei Fragen die in Deutschland auf den Hund gekommene gesamtwirtschaftliche Einsicht für sich. Professor Sinns "Bazarökonomie" ist weder beweisbar noch analytisch begründbar. Hickel zitiert die entsprechenden Daten von Statistischem Bundesamt und Bundesbank. Und er weist zu Recht darauf hin, daß das wiedervereinigte Deutschland dieselben Weltmarktvorteile hat und wahrnimmt wie die alte westdeutsche Bundesrepublik. Seit Jahrzehnten wächst der Welthandel schneller als die Weltproduktion. Die alte Bundesrepublik mußte ihren Weltmarktanteil steigern; ihr fehlten die innerdeutschen Binnenmärkte und der von der DDR belieferte osteuropäische Raum. Das vereinigte Deutschland hat diesen Binnenmarkt und vernachlässigt ihn. Noch immer warten die Ostdeutschen auf den Wiederaufbau ihrer vom Westen liquidierten Volkswirtschaft.

Die deutsche Steuerbelastung ist mit 22 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine der niedrigsten in Europa, besitzt jedoch eine fatale Schlagseite in der falschen Richtung. Die Reformpläne der "fünf Weisen" und der "Stiftung Marktwirtschaft", die beide für die Regierung arbeiten, werden sie noch nachhaltig verstärken. Die viel zu hoch belasteten Lohnabhängigen werden direkt und indirekt (über die Mehrwertsteuer) künftig noch mehr zahlen, die de facto steuerfreien Kapitalgesellschaften nochmals weniger. Und die für Infrastruktur, Krankenversorgung, Bildung und Kultur zuständigen Städte und Gemeinden dürfen froh sein, wenn sie das wenige, was sie erhalten, auch behalten dürfen, ihre Gewerbesteuereinnahmen.

Begreift irgend jemand, warum die einstmals blühende deutsche Volkswirtschaft aus europäischem Gemeinsinn darauf besteht, sich zu ruinieren? Sie brauchte keine ungerechten Einkommenssteuern einzuführen, wenn die EU parallel zur Einheitswährung die für Europa unerläßliche Steuereinheit hergestellt hätte. Es gäbe kein Steuerdumping in der EU und Deutschland hätte keine Probleme mit Wirtschaftswachstum, Sozialstaatsfinanzierung und Massenarbeitslosigkeit. Es könnte den Aufschwung über gerechte Steuern anstossen und über am Kapital-markt aufgenommene Staatskredite finanzieren. Sein (vorläufig noch) starker Kapitalmarkt würde seinen schwachen Arbeitsmarkt beleben.

Was Hickel verschweigt: EU und Neoliberalismus - zwei Namen für dieselbe Sache - sorgen dafür, daß dieses Geld nur noch das internationale Börsenkarussell in Schwung hält und dem Shareholder Value dient. Aber er hat recht: Arm dran ist ein Land, das sich so regieren läßt! 

Rudolf Hickel: Kassensturz. Sieben Gründe für eine andere Wirtschaftspolitik. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006, gebunden, 256 Seiten, 16,90 Euro Prof. Dr. Wilhelm Hankel war Direktor der Kreditanstalt für Wiederaufbau, danach Ministerialdirektor unter Karl Schiller (SPD). Seit 1967 lehrt er an der Universität in Frankfurt/ Main.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen