© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/06 11. August 2006

Das Grauen von Tschernobyl hält immer noch an
Ukraine II: Beeindruckende Fotografien im Oldenburger Schloß dokumentieren zwanzig Jahre der Kernenergie-Katastrophe
Matthias Schultz

Zwanzig Jahre ist es her, daß im ukrainischen Tschernobyl der Reaktor Nummer 4 explodierte. Die GAU vom April 1985 entvölkerte ganze Landstriche; wieviele Tote deshalb bislang zu beklagen sind, darüber streiten sich die Experten (JF 17/06). Hunderttausende leiden noch an den Folgen menschlichen Versagens. Das Grauen hält an, hat sich in Krankenhäusern und Kinderheimen eingenistet.

Weißrußland ist besonders schlimm betroffen, 70 Prozent von den rund 200 Tonnen des in die Atmosphäre geschleuderten radioaktiven Materials gingen hier als Niederschläge wieder nieder, haben 23 Prozent des Staatsgebietes verstrahlt. Der Fotograf Anatol Kliashchuk lebt in Minsk und hat ebenso wie sein deutscher Kollege Rüdiger Lubricht aus Worpswede bei Bremen immer wieder die Orte besucht, an denen die Auswirkungen des Super-GAUs abzulesen sind. Ihre eindringlichen Bilder sind jetzt im Dachgeschoß des Oldenburger Schlosses zu sehen.

Erschütternd sind die Schwarzweiß-Fotografien Kliashchuks von den vielen kranken Kindern. Kahlrasierte kleine Köpfe, ohne Augenbrauen, mit tiefliegenden, traurigen Augen, schwächliche, zum Teil verstümmelte Körper, die an Schläuchen hängen, in langen, leeren Krankenhauskorridoren einsam und verlassen stehen, sehnsüchtig mit einem Stofftier im Arm aus dem Fenster schauen und doch wissen müssen, daß es für sie keine Zukunft gibt.

So wie Ksjuscha. Mit großen Augen schaut das Kind den Fotografen an und wird doch in acht Stunden nicht mehr leben. Oder die beiden Bilder vom Mai 1995, als ein kleiner Junge noch auf dem Arm seines Vaters sitzt und vom Oktober, als der Vater schon am offenen Sarg seines Sohnes kniet.

Doch hat Kliashchuk auch die bis heute noch lebenden Opfer immer wieder besucht, zeigt, wie sie mit dem Leiden überleben oder aber einfach nur noch auf den Tod warten.

Denn von vielen ist nicht mehr viel übriggeblieben, Leukämie und Schilddrüsenkrebs, Hormonbehandlungen, Operationen, Amputationen und Chemotherapie haben sie zu apathisch dahindämmernden Häufchen Elend werden lassen.

Oder mit ihren schweren Behinderungen ein Leben lang gezeichnet. Und dann sind da noch die anderen, Alten, die trotz der tödlichen Gefahr wiedergekommen sind in die eigentlich gesperrte Zone im Umkreis von 30 Kilometern um Tschernobyl. Ihre Häuser wurden zum Teil niedergebrannt und ihre Dörfer eingeebnet, damit niemand jemals wieder hier herkommen will.

Die Natur erobert leere Straßen und Plätze

Sie werden wahrscheinlich die allerletzten Menschen sein, die tatsächlich in dem verfluchten Land leben werden, und doch ziehen sie die Gefahr einem entwurzelten Leben in der Fremde vor, wollen lieber satt sterben als woanders verhungern. Denn für die Opfer wird oft nur ungenügend gesorgt, lange Zeit wurde ihnen sogar die wahre Ursache ihres Leidens verheimlicht.

Viele Liquidatoren, die eingesetzt wurden, um direkt den Brand zu löschen und anschließend den Reaktor einzubetonieren, starben ohne Aufklärung. Jetzt leben in den Geisterstädten Tschernobyl und im einst 50.000 Einwohner zählenden Pribjat nur wenige Hilfskräfte, die wegen der unvermindert und um das Hundertfache höheren Strahlenbelastung immer nur für je zwei Wochen dort arbeiten.

Sie ziehen durch leere Straßen und Plätze, die sich die Natur zurückzuerobern beginnt. Auf diese Architekturmotive hat sich der deutsche Fotograf Rüdiger Lubricht in einem Teil der Ausstellung konzentriert, er zeigt den Verfall: Ruinen, die fast romantisch von Efeu überwuchert werden, herabbröckelnde Fassaden, eingeschlagene oder zersplitterte Scheiben, ein Schulzimmer oder einen Hotelbalkon, aus deren Böden Bäume wachsen, ein verrottetes Schwimmbecken ohne Wasser, eine verwüstete Turnhalle, ein zertrümmertes Klavier.

Beeindruckend sind Friedhöfe mit verstrahlten Lkw oder Hubschraubern, Streckenposten, Schranken oder Bilder aus dem Inneren der noch intakten Reaktoren, Kontrollräume mit Arbeitern und Turbinenräume. Zwischen den Außenaufnahmen sieht man immer wieder Details, die an die Menschen erinnern, die hier gelebt haben und deshalb gestorben sind oder immer noch leiden: ein riesiger Haufen Gasmasken in einem Waschraum, grau überdeckt vom Staub, Schuhe auf der Fensterbank und leere Krankenhausbetten ohne Matratzen, auf denen aber immer noch Kinderspielzeug herumliegt.

Die Ausstellung "Tschernobyl 1986 bis 2006 - Leben mit der Tragödie. Fotografien von Rüdiger Lubricht und Anatol Kliashchuk" im Oldenburger Schloß läuft bis zum 3. September. Öffnungszeiten: Dienstags bis freitags 9 bis 17 Uhr, sonnabends und sonntags 10 bis 17 Uhr.


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