© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/06 11. August 2006

Sex und Geld sind nicht die Welt
Am Abgrund der Banalität: Martin Walsers neuer Roman "Angstblüte" ist ein Drehbuch der Geschwätzigkeit
Günter Zehm

In der Kürze liegt bekanntlich die Würze, in der (unnötigen) Länge folglich die Unwürze, die Fadheit. An dem neuen Roman von Martin Walser läßt sich das gut studieren, allzu gut leider.

Es ist die Geschichte eines älteren Münchner Vermögensberaters, der sich außerehelich mit einem jungfrischen Filmsternchen einläßt und dabei auf die Nase fällt. Aus so etwas läßt sich zweifellos eine feine kleine Geschichte basteln; die Bibel braucht dazu zwei knappe Kapitelchen ("Susanna im Bade", Daniel 13/1 bis 14/64). Walser aber walzt daraus ein Epos von fast fünfhundert Seiten, ein Bergwerk der Geschwätzigkeit mit zahllosen tauben Stollen und sinnlosen Aufzügen. Auch dem gutwilligsten Leser geht spätestens nach halbem Wege die Lust aus.

Jenem Greis namens Karl von Kahn fehlt an sich nichts, er ist gesund und bestens erhalten, hat genug Geld, großes Haus und gute Ehefrau, interessante Freunde und Bekannte, und er "kann" auch noch, wenn es darauf ankommt. Bloß hat er einige unschöne Krampfadern am linken Bein, und das Filmsternchen ruft nach vollzogener Handlung "April, April" und läßt ihm später ausrichten, daß sie bei ihm, Karl, keinen Orgasmus verspürt habe. Darüber fällt Karl in Depression und sieht nun im Geiste nur noch "Fotzen" und "Schwänze". Man kann nur den Kopf schütteln über soviel Tragik.

Das Buch heißt "Angstblüte", es könnte auch "Johannistriebchen" oder "Torschlußpanik" heißen. Wie gesagt, solche sexuelle Torschlußpanik taugt durchaus zum literarischen Gegenstand, zur grellen Satire etwa oder zur abgründigen Parabel über unwürdige Greise in gehobener Sozialposition. Doch Walser denkt weder an Satire noch an fehlende Würde, er nimmt die Sache furchtbar ernst und sieht darin möglicherweise ein Gleichnis für die Furchtbarkeit menschlicher Existenz. Er macht sich mit seinem Karl vollkommen gemein, leidet mit ihm, hofft mit ihm.

Walser ist Karl, und da Karl, so wie er hier dargestellt wird, ein banales Nichts ist, dem nichts widerfährt, wird auch Walsers Stil banal und nichtig. Man vergleiche nur die "zentrale" Szene, wo Karl seinem Sternchen scheinbar zum Orgasmus verhilft, mit der Szene aus Thomas Manns "Krull", wo Felix der Klosettfabrikantin Madame Houpfle ein Gleiches antut! Bei Mann, trotz deftigster Anschaulichkeit, delikateste Wortwahl und wundersame Ironie, bei Walser das Routine-Vokabular öder Sexberater, wie sie sich in Illustrierten breitmachen. Warum tut sich ein Autor von Karat solches an?

Die große Angst vor der Schürzung des Knotens

Auch in anderer Hinsicht steuert Walsers Stil hier immer wieder in die Banalität. Aus momentanen Maschen, die man in früheren Büchern als nicht uninteressante Unterbrechung des Erzählflusses empfand, sind in der "Angstblüte" nervtötende Dauerpräsenzen geworden, zum Beispiel die Unart, Dialoge nicht mehr episch aufzubereiten, sondern einfach in eine Art Bühnenstück zu verwandeln, mit simplen "Er, Doppelpunkt, xxx, Sie, Doppelpunkt, xxx, Er, Doppelpunkt usw. über viele Seiten hinweg. Soll er doch gleich in die Dramaturgien gehen, wenn er nur noch Drehbücher abliefern will!

Außer um Altersgeilheit geht es in dem Buch (Karl ist ja Vermögensberater) auch noch um Geldgeilheit. Wir erfahren via "Er, Doppelpunkt, Sie oder Er, Doppelpunkt", wie Karl seinen Kunden diese oder jene Anlage andreht und sich dabei dieses und jenes denkt. Aber auch hier geht Walser jeglicher Schürzung des Knotens sorgsam aus dem Weg, es gibt nicht die Spur von dramatischen Verlusten aufgrund falscher Beratung, keine Katastrophen, keine Katharsis, nichts. Am Schluß haben alle mehr Geld, als sie vorher hatten, denn das Geld, so lesen wir beglückt, vermehrt sich aus sich selbst, wer hat, dem wird gegeben, so steht es schon im Neuen Testament (Matthäus 13/12), und da beißt die Maus keinen Faden ab.

Über solcherlei geldphilosophische Pausbäckigkeit ließe sich natürlich trefflich streiten, indes, wir sind hier nicht in einem Wirtschaftsseminar, sondern in einem Roman, und dort entscheidet nicht das Argument und nicht die logische Ableitung, sondern einzig die Handlung und die Überzeugungskraft der kunstvoll herbeigeführten Schicksale. Allein, in Walsers "Angstblüte" gibt es keine Schicksale und nicht einmal Handlung, wenigstens in den Geldkapiteln nicht. Alles plätschert seicht und folgenlos vor sich hin, Partygewäsch, Talkshow-Pläsierlichkeit, und man hat den Eindruck: Der Autor merkt gar nicht, was er da anrichtet, er ist voll mit diesem Geschwätz einverstanden, begeistert sich geradezu daran und möchte es am liebsten noch ausweiten.

Manche mögen sagen, so sei der Walser nun mal und man könne das lieben oder nicht lieben. Tatsächlich halten beispielsweise die Engländer Walser grundsätzlich für zu lang und zu umständlich, und jede englische Übersetzung eines Walser-Romans bietet sich den Käufern auf der Insel scharf gekürzt und elegant verschlankt dar. Aber wenn er es für notwendig hält, kann sich auch der originale Walser durchaus knapp fassen; man denke an den Roman "Tod eines Kritikers", der nicht einmal halb so lang wie die "Angstblüte" ist, obwohl er mindestens doppelt oder dreimal soviel Handlung transportiert wie diese.

Die Wahrheit ist: Der "Angstblüte" würde auch eine Kürzung nach englischer Art nicht aufhelfen, so wenig wie sich ein Käse verbessern läßt, indem man ihn teilt. Dieser Text ist vom ersten Wort an auf Geschwätzigkeit angelegt, welche hier gleichbedeutend ist mit Rührseligkeit, suppigem Selbstmitleid. Es ist die Klage eines alten Ehehasen und Zimmerschlachten-Kämpfers, dem seine Frau aus Zorn über seinen Seitensprung die Gemeinschaft aufgekündigt hat und der ihr nun per Brief und Briefesbrief unbedingt erklären möchte, wie alles gekommen ist, damit er endlich wieder ins angestammte Ehebett zurückkommt. Unter jedem Deckblatt dieser "Angstblüte" lugen sehnsüchtig die Filzpantoffeln hervor.

Deshalb also - wieder einmal - unser aufmunternder Zuruf an den Autor: Bis zum nächsten Mal, Herr Walser! Daß Sie anders können, haben Sie ja nicht nur längst bewiesen, auch gewisse Passagen in der "Angstblüte" lassen auf künftige intensive Aus- und Einschläge hoffen.

Polizeireporter sind doch bessere Menschen

Es gibt da zum Exempel die Stelle, wo das Filmsternchen beiläufig von seinem Vater im Ruhrgebiet erzählt. Der war dort Polizeireporter bei einer lokalen Zeitung und versah seinen Dienst zur vollsten Zufriedenheit der Leser. Dann, unter einem neuen Chefredakteur, einem gewesenen Maoisten, darf er plötzlich nicht mehr schreiben, daß diese oder jene Täter Vietnamesen oder Albaner waren, daß die Ausländerrate in der Verbrechensstatistik erschreckend hoch ist usw. usw. Political correctness zieht ein, der alte Polizeireporter kann und will sich nicht anpassen, will weiter das schreiben, "was wirklich passiert", seine Artikel werden nicht mehr genommen oder vollkommen umgeschrieben, schließlich wird ihm gekündigt, er bricht zusammen, kommt ins Irrenhaus - und begegnet dort dem maoistischen Chefredakteur, der inzwischen ebenfalls durchgedreht ist, wenn auch aus privaten Gründen.

Nicht länger als anderthalb Seiten ist diese Geschichte, anderthalb Seiten von etwas weniger als fünfhundert, es ist nur ein kleiner Dialogfetzen zwischen Karl und dem Sternchen. Und dennoch steckt darin ein ganzer Walser-Roman, einer von den kürzeren, "Tod eines Kritikers", "Ein fliehendes Pferd". Der Autor sollte diesem Projekt nähertreten, sobald sich Karl von Kahn mit seiner Frau ausgesöhnt hat. Von Johannistriebchen, respektive Angstblüten haben seine Leser nun genug.

Martin Walser: Angstblüte. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006, gebunden, 478 Seiten, 22,90 Euro

Foto: Martin Walser in seinem Haus am Bodensee: Unter jedem Deckblatt lugen sehnsüchtig die Filzpantoffeln hervor - schade!


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