© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/06 11. August 2006

CD: Klassik
Schöne Pleite
Jens Knorr

Es ist der Alptraum aller Musiktheoretiker und -praktiker und aller Profiteure der Klassikindustrie sowieso: Ein Werk, eben noch als Entdeckung gefeiert, eloquent in die musikhistorischen Diskurse einsortiert und mit einer angeblichen World Premiere Recording unter die Leute gebracht - es ist nicht von dem, in dessen "Spätstil" es angeblich komponiert wurde. Der Haydn, der eh nur der jüngere Bruder Michael gewesen wäre, ist nur ein Pasterwiz!

Im Nachlaß Michael Haydns, den die Ungarische Nationalbibliothek Budapest verwaltet, "entdeckt" Oliver Krone den autographen Partitursatz eines Requiems, von dem er keinen Auftraggeber, keine Aufführung, keinen Eintrag in einem Musikalienkatalog des 18. Jahrhunderts ermitteln kann. Nicht einmal ein Toter in Michael Haydns näherer Umgebung ist bekannt, der den Komponisten veranlaßt haben könnte, seinem tiefsten Schmerz persönlichsten Ausdruck zu verleihen. Nun war Michael Haydn seit 1763 als "Hofmusicus und Concertmeister" in Salzburg direkter Vorgesetzter von Leopold Mozart und mit dessen Kindern Nannerl und Wolfgang wohlbekannt. Mozart hat Haydns Werke intensiv studiert. Aus Haydns erstem Requiem, an dessen Aufführung im Salzburger Dom 1771 die Mozarts mitgewirkt hatten, bezog Mozart wichtige Anregungen für die Komposition seines eigenen. Da konnte Krone der Versuchung nicht widerstehen, in Haydns als "ein unbekanntes Salzburger Requiem" annonciertem von 1992 eines für niemand anderen als Wolfgang Amadé selbst zu vermuten, auf daß ein weniges von dem Ruhm des großen Salzburgers und seines Requiem-Fragments auf den kleineren Salzburger falle.

Doch die Unechtheit der Partitur MH 559 ist bereits seit 1999 festgestellt. Es handelt sich um die von Haydn angefertigte und mit seinem Namen versehene Abschrift einer den Musikforschern längst bekannten Komposition des Kremsmünsterer Benediktiners Georg von Pasterwiz (1730-1803), die allerdings, wie die Presseabteilung des veröffentlichenden Labels nachschiebt, von solcher Qualität sei, daß sie sich leicht für eine Haydn-Arbeit konnte ansehen lassen - ein klarer Fall positiven musikalischen Vorurteils, das sich nicht durch Hören gebildet hat, sondern durch Hörensagen, welches das Hören korrumpiert hat. (Kein Rezensent ist dagegen gefeit!) Im umgekehrten Fall wäre es selbstverständlich niemandem eingefallen, von einer Pasterwizschen Partitur auf Haydn als Komponisten zu schließen, und gleich gar nicht von einem (!) Ton - "Der Ton" - auf eine "ungewöhnliche, kreative Beschreibung des Genies Mozart, der kurz zuvor gestorben war", wie Oliver Krone im Beiheft schwadroniert.

Mozarts Requiem-Fragment steht in einer großen kirchenmusikalischen Tradition, und im Vergleich mit dem Requiem c-Moll von Georg von Pasterwiz - insbesondere in der hausbackenen Einspielung durch die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein und den Kammerchor Cantemus unter Gesamtleitung von Werner Ehrhardt, zusammen mit der Missa Sancti Joannis Nepomuceni MH 182 und dem Te Deum in D MH 829, diese beiden Werke unstrittig von Michael Haydn (Capriccio SACD 71084) - erst erweist sich, wie weit es aus dieser hinaustritt. Unser Requiem c-Moll verweist trotz formalen Leerlaufs und barocker Formelhaftigkeit immerhin darauf, daß im kompositorischen Mittelfeld der Mozart-Zeit durchaus Meister ihres Fachs aufspielten. Und die ganz erstaunlichen ersten Takte des "Kyrie" wie die verlöschenden Chortakte am Schluß des "Agnus Dei" dürften alles bis hierhin Geschriebene relativieren.

Wissen wir denn mit Sicherheit zu sagen, wer das Requiem geschrieben hat, dessen Originalpartitur von der Hand des Ordensbruders Georg von Pasterwiz ist?


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