© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/06 18. August 2006

Streit um Zahlen
Geschichtspolitik: Zahl der Toten an der innerdeutschen Grenze immer noch ungewiß / Chefin des Berliner Mauermuseums kritisiert Forscher
Anni Mursula

Fast 17 Jahre nach dem Fall der Mauer ist immer noch unklar, wie viele Menschen bei dem Versuch gestorben sind, den SED-Staat zu verlassen. Zum 45. Jahrestag des Mauerbaus in der vergangenen Woche ist nun ein neuer Streit über die genauen Opferzahlen des DDR-Unrechtsregimes entbrannt. Das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) hatte am 8. August die Ergebnisse eines gemeinsamen Forschungsprojektes mit der Mauergedenkstätte Bernauer Straße veröffentlicht.

Nach dieser Studie konnten 125 Mauertote nachgewiesen werden. Damit sank die Zahl von vorher 268 angenommenen Opfern um 143. Allerdings seien 81 Fälle noch offen und bedürften einer weiteren Überprüfung. ZZF-Projektleiter Hans-Herman Hertle betonte, daß die geringere Zahl an Mauertoten keinesfalls als Entlastung für das SED-Regime zu werten sei.

Die Leiterin des Mauermuseums am Checkpoint Charlie und der Arbeitsgemeinschaft 13. August, Alexandra Hildebrandt, ist anderer Meinung. Ihren Recherchen nach ist die Zahl der Grenztoten nicht gesunken, sondern gestiegen.

Hildebrandt veröffentlicht neue Opferliste

Im August 2005 gab sie an, daß 1.135 Menschen ihr Leben an den Grenzen der DDR verloren hätten, davon 252 an der Berliner Mauer. Seitdem hat die Arbeitsgemeinschaft weitere 66 Fälle recherchiert. Am vergangenen Donnerstag veröffentlichte Hildebrandt eine neue Opferliste, die jetzt 1.201 Grenztote verzeichnet. "Wir bekommen ständig neue Hinweise auf weitere mögliche Opfer des Grenzregimes." Diese würden dann von der Arbeitsgemeinschaft überprüft. "Zu jedem in die Liste mit aufgenommenen Fall haben wir mindestens eine Meldung aus einem seriösen Archiv. Wir haben keine Fantasiefälle", betonte Hildebrandt, die allerdings darauf aufmerksam machte, daß auch offizielle Quellen und amtliche Dokumente irren könnten. Als Beispiel nannte sie Todesmeldungen der DDR-Grenztruppen. Manchmal hätten Schwerverletzte im Krankenhaus schließlich doch überlebt. Eine Rückmeldung hätten die Grenztruppen natürlich nicht erhalten. So seien Fehler in den Dokumenten entstanden. Diesen müsse nun allen erst nachgegangen werden.

Hildebrandt warf den Historikern Maria Nooke vom Dokumentationszentrum und ihrem Kollegen Hertle vom ZZF vor, sie seien von der rot-grünen Bundesregierung bezahlt worden, die Opferzahl niedrig zu halten. Tatsächlich hat die ehemalige Regierung 260.000 Euro für die Ermittlung der Mauertoten bezahlt. Hildebrandt behauptet, man könne sich denken, daß in diesem Auftrag bereits das Ergebnis inbegriffen sei. Daß eine hohe Opferzahl den Regierenden unangenehm wäre, habe man schon bei der Entfernung der 1.067 Mauerkreuze am Checkpoint Charlie vor gut einem Jahr gesehen. "So viele Tote darf es einfach nicht geben", meinte Hildebrandt.

Sie kritisierte das ZZF auch, weil dieses Steuergelder für die Prüfung von bekannten Daten verschwendet hätte. "Sie haben die von uns bereits ermittelte Liste genommen und als Vorlage benutzt", sagte Hildebrandt. Statt Altbekanntes zu untersuchen, hätten sie das Geld nutzen können, um neue Fälle zu ermitteln. Als inakzeptabel wertete die Leiterin des Museums, daß sie zu der Angelegenheit nicht befragt wurde und zur Pressekonferenz nicht eingeladen gewesen sei. "Ich habe die ganzen Unterlagen erst nach der Konferenz bekommen", sagte sie. Wenn es dem ZZF wirklich um die Sache ginge, wäre die Einrichtung bereit gewesen, mit allen Instanzen, auch mit der Arbeitsgemeinschaft 13. August, zusammenzuarbeiten, sagte Hildebrandt. Statt dessen würden sie und die Arbeitsgemeinschaft gezielt ausgrenzt.

"Unser Ziel ist es die Wahrheit herauszubekommen", sagte Hildebrandt. Auf die Frage, welche Fachleute und Historiker bei ihr die Recherchen durchführten, antwortete sie, daß ihre Mitarbeiter ausschließlich ehrenamtlich arbeiteten. Wichtig sei aber nicht, ob man eine Ausbildung zum Historiker habe, sondern daß man "mit dem Herzen dabei" sei.


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