© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/06 18. August 2006

Das schlechte Gewissen als Antrieb
Richtungsstreit: Die CDU ringt um ihr sozialpolitisches Profil / Vize-Chef Rüttgers prangert neoliberale Tendenzen an / Vor dem Grundwertekongreß
Paul Rosen

Wenn Jürgen Rüttgers sagt, "der Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen bin ich", dann löst das in seiner Partei, der CDU, wenig Freude aus. Trotz Stimmenverlusten und miserabler Umfragewerte basteln Parteistrategen wie Generalsekretär Ronald Pofalla an neuen Grundsätzen, die aus der CDU eine stark neo-liberal eingefärbte Gruppierung machen sollen, die traditionelle Werte wie die soziale Absicherung der Arbeitnehmer und Schutz vor Ausbeutung in den Hintergrund schiebt und sich stärker auf Wählerschichten konzentriert, die die Globalisierung (und vorher den Neuen Markt) als die eigentliche Chance begreifen. Unter Schlagworten wie Eigenverantwortung oder Selbstbeteiligung soll der Bürger weitgehend schutzlos den kapitalistischen Kräften ausgeliefert werden.

Die CDU-Führung ist offenbar überzeugt, unter Helmut Kohl jahrelang wichtige Entwicklungen verschlafen zu haben. Dessen Sozialminister Norbert Blüm predigte tatsächlich bis kurz vor dem Wechsel zu Rot-Grün, daß die Rente sicher sei. Dabei war selbst Nicht-Volkswirtschaftlern klar, daß ein Rentensystem, von dem immer mehr Menschen Leistungen erwarten, während immer weniger einzahlen, über kurz oder lang zusammenbrechen muß. Auch übertrieben bürokratische Regelungen auf dem Arbeitsmarkt waren unter Blüm nicht oder in nur unzureichendem Ausmaß zu verändern. Damit trägt der sozialpolitische Flügel auch einen gehörigen Teil Mitverantwortung an seinem eigenen Untergang.

Denn seit Blüms Abschied spielt die einst mächtigste CDU-Vereinigung, die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA), faktisch keine Rolle mehr in der Partei - anders als bei der CSU, wo der Sozialpolitiker Horst Seehofer im Bundeskabinett sitzt. Unter seiner Führung blieb
die Christlich-Soziale Arbeitnehmerschaft (CSA) ein wichtiger Faktor in der CSU. Die früher ausgeglichenen Machtverhältnisse in der CDU haben sich verändert. Da es auch keinen konservativen Flügel mehr gibt, geben den Ton jetzt "Modernisierer" wie Pofalla an, der durchaus im Sinne der Parteivorsitzenden handelt. Merkel, selbst kinderlos, geschieden und wieder verheiratet, sieht ihren eigenen Lebenslauf offenbar als beispielgebend an.

Annäherung an rot-grüne Positionen

Das schlechte Gewissen wegen der eigenen Kinderlosigkeit treibt diese Politiker an, die Förderung von Kindern in den Mittelpunkt zu rücken, wobei Ehe und Familie aber nicht mehr unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes wie in früheren Zeiten gestellt werden.

Pofalla hat in jüngster Zeit einige Vorschläge im themenarmen Berliner Sommer plaziert, um die Akzeptanz dieser Pläne für das neue Grundsatzprogramm zu testen. Früh kam seine Idee, das steuerliche Familiensplitting einzuführen, das zu Lasten von Ehegatten gehen sollte. Der Vorschlag kommt einer Relativierung der Ehe gleich und würde zu einer Annäherung der CDU an rot-grüne Positionen führen. Dort wird Familie auch überall dort gesehen, wo Kinder sind. Mit seinem später gemachten Vorschlag, daß Kinder für ihre arbeitslosen Eltern aufkommen sollen, ging Pofalla in eine ähnliche Richtung. Damit würden Familien belastet, während Singles von der öffentlichen Hand gefüttert werden müßten.

Auf dem Grundwertekongreß der CDU am 22. August in Berlin wird sich zeigen, ob den neoliberalen Tendenzen, die Rüttgers angeprangert hatte, noch Widerstand entgegengesetzt oder ob der Ministerpräsident schweigen wird wie andere Merkel-Gegner, denen die Parteivorsitzende zur Zeit zu stark ist. Ende November will die CDU auf einem Parteitag das neue Programm beschließen. Bleibt es bei der Richtung, die sich an den schon früherer getroffenen Beschlüssen zu Kopfpauschale festmachen läßt, hält die neoliberale Phase an. Die CDU steht dann nicht mehr für das Solidaritätsprinzip, nach dem derjenige mit höherem Einkommen mehr an die Gemeinschaft abführen muß als ein Geringverdiener.

Die Unionsparteien entfernen sich dadurch auch weiter voneinander. Schon der interne Streit um die Gesundheitspolitik hat deutlich gemacht, daß die CSU viel vorsichtiger vorgeht als die CDU. Die Bayern wollen einen programmatischen Dreiklang aus Lei-stung, Solidarität und Patriotismus, während bei der CDU nur noch der Leistungsgedanke ohne soziale Begrenzung im Mittelpunkt steht. Sie setzt damit Fliehkräfte frei, die sich in den Wahlumfragen bereits bemerkbar
machen.


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