© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/06 18. August 2006

Biographisches aus allernächster Nähe
Pierre Radvanyi, Sohn von Anna Seghers, schildert die persönliche Perspektive ihres Schriftstellerlebens zwischen Exil und Staatsautorin
Jörg Bernhard Bilke

Der in Paris lebende Physiker Pierre Radvanyi, der 1926 geborene Sohn Netty Radvanyis (1900-1983), die als Mainzer Bürgertochter aus jüdischem Elternhaus Netty Reiling und als Schriftstellerin Anna Seghers hieß, hat ein höchst lesenswertes Buch über seine Mutter geschrieben. Wenn man weiß, wie sparsam Anna Seghers mit autobiographischen Mitteilungen umging - woran schon 1965 eine von Christa Wolf geplante Biographie scheiterte -, dann ist man dankbar für die Fülle der hier mitgeteilten Details, zumal sie authentisch und nicht mühevoll recherchiert sind.

Pierre Radvanyi, der fast sieben Jahre alt war, als er mit seiner Mutter, der zwei Jahre jüngeren Schwester Ruth und dem Vater Laszlo Radvanyi (1900-1978) ins Exil ging, hat sein Erinnerungsbuch den Lebensstationen seiner Mutter entsprechend in sechs Kapitel gegliedert. Im Abschnitt "Vorgeschichte" berichtet er nur, was ihm erzählt wurde, was er aber nicht selbst erlebt hat. Mit Beginn des Jahres 1932 aber verdichten sich die Erinnerungen, er beginnt, Gehörtes zu unterscheiden von selbst Erfahrenem: Der Übergang ist fließend, aber die Erinnerungsbilder werden immer klarer. Seine Eltern lebten nun schon fast sieben Jahre in Berlin, seine Mutter war als Schriftstellerin in dieser Zeit zu frühem Ruhm gelangt, neben Eltern und Schwester Ruth wohnte im Haushalt der jungen Familie die Kinderfrau Katharina Schulz aus Lindelbach im Odenwald, die die Radvanyis 1933 ins Pariser Exil begleiten sollte und die nach einem Heimatbesuch 1937 in Deutschland nicht mehr ausreisen durfte.

Das, gemessen an dem, was ihr noch bevorstand, ruhige und ungefährdete Leben im Pariser Exil, wo Anna Seghers vier Romane schrieb und am fünften arbeitete, dauerte sieben Jahre und endete jäh mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1940. Hier erfährt der Leser Einzelheiten über die klassisch-bürgerliche Bildungstradition, in der die beiden Kinder erzogen wurden, und über die Entstehung der Romane "Der Weg durch den Februar" (1935) und "Die Rettung" (1937), deren Konzeption Reisen nach Österreich und Belgien notwendig machte.

Das Kapitel "Auf der Flucht" ist zweifellos das stärkste des Buches. Pierre Radvanyi hat noch nach 65 Jahren eine unglaublich tiefe Erinnerung an den Fluchtverlauf von Paris über die Demarkationslinie zum Vichy-Staat nach Marseille und von dort über die Inselgruppe der Antillen und Ellis Island bei New York nach Mexiko, wo seine Mutter bis 1947 und sein Vater bis 1952 lebten. Besonders die beiden Abschnitte "Auf den Straßen" und "Im besetzten Paris" (denn der erste Fluchtversuch nach Südfrankreich mußte abgebrochen werden) sind heute unentbehrlich zum Verständnis des Exillebens von Anna Seghers und ihres Romans "Transit" (1943), den sie während dieser hektischen Fluchtwochen schrieb, immer in Gefahr, als Jüdin und Kommunistin verhaftet und an Deutschland ausgeliefert zu werden, bis das Schiff am 24. März 1941 in Marseille ablegte und die vierköpfige Familie Radvanyi am 30. Juni 1941 in der mexikanischen Hafenstadt Vera Cruz eintraf, von wo sie mit der Eisenbahn nach Mexiko-Stadt hinauffuhr.

Die mexikanische Exilgruppe deutscher Kommunisten war die zweitstärkste nach der in Moskau. Anna Seghers, 1941/46 Präsidentin des Heinrich-Heine-Clubs, verlebte dort sorgenfreie und finanziell unabhängige Jahre, nachdem ihr Widerstandsroman "Das siebte Kreuz" (1942) in Hollywood verfilmt worden und 1944 uraufgeführt worden war. Sie wohnte in der Avenida Industria 215 in einem Haus, das ich im März 1973 aufgesucht und Christa Wolf davon berichtet habe (ihr Antwortbrief vom 1. Juni 1973 ist im Aufbau-Taschenbuch von 2003: Christa Wolf/Anna Seghers "Das dicht besetzte Leben" abgedruckt). Pierre Radvanyi hat das Leben und Treiben der Emigranten mit den wachen Augen eines Kindes beobachtet und schildert auch die politischen Auseinandersetzungen um den für Kommunisten unerträglichen Hitler-Stalin-Pakt von 1939.

Er kehrte am 16. Oktober 1945 nach Frankreich zurück, studierte Physik in Paris und wurde französischer Staatsbürger. Seine Eltern aber und Schwester Ruth erwarben die mexikanische Staatsbürgerschaft, Ruth studierte von 1946 an Medizin in Paris, wurde Kinderärztin und übersiedelte 1954 nach Ost-Berlin, wo ihre Mutter seit 1950 lebte. Hier, im sozialistischen Deutschland, wurde Anna Seghers zur gefeierten "Staatsautorin" (Heinz Ludwig Arnold), die dreimal mit dem Nationalpreis (1951, 1959 und 1971), 1951 mit dem Stalinpreis und 1965 mit dem Karl-Marx-Orden ausgezeichnet wurde.

Die Frage muß erlaubt sein, wie tief sie in den Stalinismus verstrickt war, dem schließlich auch andere Intellektuelle verfallen waren. Pierre Radvanyi geht darauf im Abschnitt "Stalinismus" ein, der mit vier Seiten leider recht kurz geraten ist, vermeidet es aber, seine Mutter eine "Stalinistin" zu nennen, die sie zweifellos war. Vielmehr versucht er zu erklären, wie auch Anna Seghers unter dem Stalinismus gelitten hat. Unter diesem Aspekt bleibt dieses wunderbare Buch leider unbefriedigend.

Foto: Anna Seghers (1965)

Pierre Radvanyi: Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers. Aufbau-Verlag, Berlin 2005, gebunden, 160 Seiten, 15,90 Euro


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