© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

Kolumne
Beängstigender Verlust
Klaus Motschmann

Der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard (1813-1855) bemerkte einmal bei einem Spaziergang durch seine Heimatstadt Kopenhagen ein Schaufenster, in dem ein Schild hing: "Hier wird gebügelt". Als er am Tag darauf das Geschäft aufsuchte, um ein paar Hemden bügeln zu lassen, wurde ihm erklärt: Hier wird nicht gebügelt, hier werden Schilder verkauft. Ein ärgerlicher Irrtum, der gewiß nicht passiert wäre, hätte Kierkegaard die Auslagen des Geschäftes genau beachtet. Darauf kommt es aber an, heute mehr denn je.

Was in dieser Anekdote noch als Beispiel für die sprichwörtliche Zerstreutheit eines Gelehrten gelesen werden kann, hat sich inzwischen zu einer keineswegs harmlosen Praxis der politischen Agitation und Propaganda entwickelt. In vielen "Schaufenstern" unserer Parteien und meinungsbildenden Institutionen, also in den Medien, auf Parteitagen, Demonstrationen und Plakaten werden uns markige Parolen und wundersame Verheißungen vermittelt, die in absehbarer Zeit selbst bei allerbestem Willen nicht in Erfüllung gehen können, weil sie auf groben Täuschungen beruhen. Der gegenwärtige Wahlkampf in Berlin liefert - wieder einmal - von allen Erfahrungen der Vergangenheit unbeeindruckt die aktuellen Musterbeispiele. Er erweckt den Eindruck, als ob die wirtschaftlichen und sozialen Probleme dieser Stadt und Deutschlands durch ein Kreuzchen an der (vermeintlich) richtigen Stelle "glattgebügelt" werden könnten. Trotz der katastrophalen öffentlichen Verschuldung Deutschlands in Höhe von 1,6 Billionen Euro bei wachsenden Tendenz (2.000 Euro pro Sekunde) spielt das Geld offenkundig keine entscheidende Rolle, um den Glauben an die Verheißungen nicht zu gefährden. Auf einem der Plakate ist ausdrücklich zu erfahren, daß das Geld schon da sei, es müsse nur gerecht verteilt werden. In welchem Julius-turm dieses Geld liegen soll, wird bedauerlicherweise nicht gesagt.

Was fällt einem nach diesem um sich greifenden und beängstigenden Verlust des Realitätsbewußtseins noch ein? Allenfalls noch ein Psychiater-Witz: Eine Frau kommt zu einem Psychiater und erkundigt sich nach den Möglichkeiten einer Therapie für ihren Mann. Er glaubt ein Rennpferd zu sein und verhält sich auch so. Er ernährt sich nur noch von Haferspeisen, scharrt mit den Füßen und beginnt neuerdings zu wiehern. Der Psychiater erklärt sich zu einer Therapie bereit, gibt aber zu bedenken, daß sie langwierig und deshalb kostspielig sei. Das macht gar nicht antwortete die Frau erleichtert, Geld spielt keine Rolle, denn wir haben schon viele Prämien bei großen Turnieren gewonnen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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