© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

Pankraz,
Th. Hobbes und die gierigen Eisbergjäger

Das bieten die Reisebüros noch nicht an: Touren nach Saint John's auf Neufundland zur Eisbergernte bzw. Eisberglese (iceberg-gather-ing), welche sich zur Zeit auf ihrem saisonalen Höhepunkt befindet. Dabei gibt es viel zu sehen und viel zu bestaunen.

Tag für Tag starten Erkundungsflugzeuge, um möglichst viele der Eisbergrudel auszumachen, die jetzt im Sommer vom Grönlandeis abgebrochen sind und von Norden her herangeschwommen kommen. Jeder einzelne Berg wird von allen Seiten genau beäugt, denn beileibe nicht jeder eignet sich zur Ernte (vintage). Diejenigen aber, die sich eignen, müssen so früh wie möglich "geerntet" werden, weil sie ja rasch immer kleiner werden. Je früher die Ernte, um so höher der Gewinn.

Wichtig ist, daß der Berg keine allzu ausladende Unterwassermasse hat, weil sonst die Ernteschiffe (von der Größe eines stattlichen Fischkutters) nicht gefahrlos an ihn anlegen können. Wurde er für gut befunden und hat das Schiff angelegt und ist einigermaßen sicher vertäut, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Gierig wie Walfänger aus der Moby-Dick-Zeit stürzen sich die "vintagers" (wir würden wohl sagen: die Abspecker) auf das Eis. Brechmaschinen rattern, rüsselförmige Saugmaschinen (aus Deutschland importiert) reißen die Brocken hinüber ins Schiff, wo sie gleich geschmolzen und in gläserne Behälter abgefüllt werden.

Reinheit ist das oberste Gebot. "Wir ernten hier das reinste Wasser, das es gibt", erklärt der Kapitän. "Das Eis, aus dem es kommt, ist Zehntausende von Jahren alt, alle Keime darin sind längst abgestorben. Die Proben, die in Saint John's gemacht werden, sind bisher alle negativ verlaufen. Naturwasser pur, unbehandelt und herrlich frisch."

Wer kauft solch originales Eisbergwasser? "Nun, unser Eis ist nicht billig. Unsere besten Kunden sind zur Zeit die internationalen Fünf-Sterne-Hotels, besonders die in den Öl-Emiraten. Die diesjährige Ernte ist schon so gut wie verkauft. Aber das Geschäft ist ausbaufähig. Zur Zeit arbeiten wir an einem zugkräftigen Logo und an einer unverwechselbaren Form für unsere Einzelflaschen." Er zeigt auf ein Modell, das in seinem Bordbüro steht, eine schlanke, merkwürdig glitzernde Cheopspyramide im Miniformat. "Die wird wohl das Rennen machen."

Pankraz findet das alles faszinierend und hochsymbolisch. Es gibt offenbar wirklich nichts, das sich dem menschlichen Verwertungsinteresse entziehen kann. Noch bis vor kurzem galten Eisberge lediglich als Gefahr für die Schiffahrt ("Titanic"!) und als weiter nichts. Man überließ sie ihrem Schicksal, ging ihnen tunlichst aus dem Wege. Und jetzt jagt man sie plötzlich, erntet sie, speckt sie ab, verwandelt sie in kleine Cheopspyramiden zur Pläsier und Erfrischung arabischer Ölscheichs und ihrer Gäste. Wer hätte das gedacht.

Sollte man der Sache nicht in weitaus größerem Maßstab nähertreten? Die Polkappen schmelzen angeblich unaufhaltsam ab, verwandeln sich peu à peu in salziges, für Mensch und Tier und Pflanze unbrauchbares Meerwasser. Andererseits nimmt in vielen Gebieten der Erde der Trinkwassermangel rapide zu. Die artesischen Brunnen versiegen, die unterirdischen Trinkwasserblasen werden immer kleiner. Warum da nicht das Polareis direkt angehen, in dem immerhin mehr als die Hälfte aller überhaupt vorhandenen Trinkwasserbestände erstarrt ist? Warum nicht gleich in den Polarwüsten Eiszerkleinerungs-Fabriken gründen inklusive gigantischer Wasserleitungen zu den Trockengebieten?

Ob sich das je rechnen würde, müßten Experten sorgfältig erkunden. Die Pinguin- und die Eisbärenromantik gingen darüber natürlich flöten, aber wer fragt schon, wenn es um Gewinn und die Ausbreitung der menschlichen Rasse geht, nach Romantik? Außerdem könnte dadurch die viele Gerechtigkeitsfanatiker empörende Privilegierung der Ölscheichs beendet werden. "Eisbergwasser für jedermann!" sei die Parole.

Vor nur fünfzig Jahren zählte die Weltbevölkerung noch zweieinhalb Milliarden Individuen. Heute sind es über acht Milliarden. Und alle wollen trinken, um am Leben zu bleiben und sich weiter vermehren zu können. Naturgesetze, die früher den Bevölkerungszuwachs spontan regelten und in Grenzen hielten, sind durch die kulturelle Entwicklung außer Kraft gesetzt. Kultur trat an die Stelle von Natur, und es ist eine Verdrängungskultur, welche die natürlichen Ressourcen aussaugt.

Wenn die Meteorologen recht haben, ist auch das beschleunigte Abschmelzen der Polkappen kulturellen Ursprungs, verursacht durch "künstliche Klimaerwärmung", will sagen: durch CO2-Ausstoß und Methanbelastung der Atmosphäre. Eine Nutzung der Kappen zur Trinkwassererzeugung wäre also kein neuerlicher ökologischer Sündenfall, sondern lediglich Moment innerhalb eines Sündenfalls, der schon längst im Gange ist und der bisher nur zur Vernichtung der vorhandenen Trinkwasservorräte beigetragen hat. Eine Polarwasser-Industrie würde das Wasser nicht gleich vernichten, sondern erst einmal kräftig zur Erquickung zahlloser durstiger, dem Verdursten naher Menschen beitragen.

Das Vertrackte ist nur, daß die Erquickten sich nicht voller Dankbarkeit mit der Stillung ihres Grundbedürfnisses zufriedengäben, sondern sie würden - erquickt - gleich wieder frech werden, würden sofort nach neuen Nutzungsmöglichkeiten auf Kosten der Natur Ausschau halten und das Tempo des Ressourcenverbrauchs weiter in irre Dimensionen treiben. Schon Thomas Hobbes im siebzehnten Jahrhundert sagte: "Dieses Geschlecht" (er meinte die Menschen) "ist nicht hungrig auf dies oder das, sondern es ist hungrig auf den Hunger. Wer es sättigen will, der macht es immer nur hungriger" (oder durstiger).

Deshalb bleibt innig zu wünschen, daß der Durst auf Eisbergwasser ein exklusiver, auf einige wenige reiche Kreise beschränkter Affekt bleibt, daß die Eisberge sich in der nächsten Saison wieder rarer machen und die Eisbergjäger von Saint John's, so sympathisch sie sein mögen, nur begrenzten Erfolg haben.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen