© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/06 25. August 2006

Und ständig schrillt die Alarmglocke
von Jost Bauch

Modernen Gesellschaften fehlen Fixpunkte für normative Sinngebungen, die sich an der Differenz von Norm und Abweichung orientieren. Die Welt wird nicht mehr bedroht von der Abweichung oder dem Abfall von der richtigen Ordnung, sondern von den Folge- und Folge-Folgeproblemen individuellen und kollektiven Verhaltens. Das Verhalten von Individuen und Kollektiven steht unter dem Kontingenzgebot, eine Vielzahl von Verhaltensalternativen ist gegeben, und jede Entscheidung für eine bestimmte Verhaltensweise steht vor dem Risiko, Chancen anderer Verhaltensentscheidungen nicht genutzt zu haben. Ulrich Beck bezeichnet eine solche Gesellschaft als "Risikogesellschaft".

Der einzelne ist dabei völlig überfordert, die Risikoträchtigkeit seiner Verhaltensentscheidungen abzuschätzen. Um sich in dieser Welt zurechtzufinden, wo nicht mehr die Strafe Gottes oder anderer transzendentaler Instanzen den richtigen Weg prästrukturiert, ist es erforderlich, daß professionelle expertokratische Instanzen und Institutionen die Menschen über die Risiken ihrer Entscheidungsarbeit aufklären. Ein ganzer Markt ist entstanden, der zu allen gesellschaftlichen Themen Beratung und "Consulting" anbietet und so vorgibt, Risiken besser als seine jeweiligen Klienten abschätzen zu können.

Besonders im Gesundheits- und Umweltbereich gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Organisationen, die sich in enger Kooperation mit den Medien auf die Inszenierung von "Risikodiskursen" spezialisiert haben, die also vor den gesundheitlichen Gefahren der Umweltverschmutzung oder bestimmter Verhaltensweisen warnen. Wie die Seuche als Strafe Gottes über die mittelalterliche Gesellschaft hereinbrach, so fallen in regelmäßigen Abständen diese Risikodiskurse und Gefahrenkommunikationen über uns her und beanspruchen auf Zeit die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit. In schöner Regelmäßigkeit entstehen so Aids-, Amalgam-, BSE-, Elektrosmog-, Ozonloch-, Saurer-Regen-, Schweinepest-, Vogelgrippediskurse, die die öffentliche Diskussion in Atem halten.

Auffallend ist der Event-Charakter dieser Diskurse: Sie beherrschen die öffentliche Diskussion auf Zeit fast total, um dann in der Aufmerksamkeitsversenkung zu verschwinden und durch einen anderen Diskurs abgelöst zu werden. Mit zunehmender Zahl solcher Diskurse wächst die Wahrscheinlichkeit, daß diese sich in ihren Botschaften inhaltlich widersprechen. So wird für den einzelnen zur Gewißheit, daß die Befolgung der Verhaltensmaßregeln der jeweiligen Risikodiskurse keineswegs vor Gefährdung schützt. Wenn beispielsweise ein Lebensmittel als gesund gilt, so heißt dies keineswegs, daß es auch gesund ist. Jederzeit kann eine neue Risikokommunikation anheben, die die Gesundheit des bisher als gesund geltenden Lebensmittels in Frage stellt.

Hat man mühsam genug die Menschen von allzu fettreicher Ernährung auf zunehmend frische Pflanzenkost umgestellt, so verlautet in einem neuen Risikodiskurs, daß beispielsweise durch Verzehr von frischem Obst das Risiko von Lebensmittelinfektionen steigt. Insbesondere durch exotische Früchte werden nahrungsmittelverseuchende Erreger eingeschleppt (wie die Mikrobe Cyclospora cayetanensis auf Himbeeren aus Guatemala). Durch neue präventive Verhaltensmaßregeln, wie in diesem Falle: "Boil it, cook it, peel it or forget it" werden die Verhaltensmaßregeln älterer Risikokommunikationen mit einem Schlag außer Kraft gesetzt, nämlich in diesem Fall möglichst viel frisches, also ungekochtes Obst zu essen.

Die Gefahren- und Risikokommunikationen blockieren sich so zunehmend selbst, die Vielzahl der sich überkreuzenden und überlappenden und einander widersprechenden Risikokommunikationen nimmt so überhand, daß das Individuum durch sein Verhaltensmanagement lediglich die Risiken austauschen kann, den sicheren Boden des gesunden und risikoaversiven Lebens aber nie erreicht. Das Risiko, auf Verhaltensempfehlungen von Risikodiskursen einzugehen, wird zu groß, und damit wird erkannt, daß Risikodiskurse Konstrukte sind, hinter denen sich handfeste Interessen der Risikodiskurs-Betreiber verbergen: Der Margarineindustrie, der pharmazeutischen Industrie, der diversen Umweltverbände, der Wissenschaftler und wissenschaftlichen Institute, der Sozialbetreuer usw. usw.

Nur wenn in enger Kooperation mit den sensationslüsternen Medien die Risikodiskurse eine apokalyptische Dimension aufweisen, gibt es für die Diskurs-Betreiber genügend gesellschaftliche Aufmerksamkeit und damit Spendengelder und Mitgliedschaftsbeiträge. Eine Organisation wie Greenpeace verfügt über 550.000 Spender, die alleine 41 Millionen Euro in die Kasse spülen. Damit diese Spendenmaschine weiterläuft, müssen sensationelle Nachrichten produziert werden, das Ausstreuen von Ökoweizen haut keinen mehr vom Hocker, die Reizschwelle ist nach oben gegangen, es muß Blut fließen, so Brigitte Behrens, die Geschäftsführerin von Greenpeace Deutschland.

Drei Komponenten müssen vorliegen, wenn ein Risikodiskurs gesellschaftlich erfolgreich sein will: Die Gefahr und das Risiko muß möglichst universell sein, also potentiell alle Menschen betreffen, das Risiko sollte für das Individuum unmittelbar nicht wahrnehmbar sein, so steigt das Bewußtsein einer "globalen Bedrohung", und die Strategien der Risikovermeidung oder Minimierung müssen die Beachtung von Ratschlägen von Experten erforderlich machen.

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Die Gefahr und das Risiko muß möglichst universell sein, das Risiko sollte für das Individuum unmittelbar nicht wahrnehmbar sein, und die Strategien der Risikovermeidung oder Minimierung müssen die Beachtung von Ratschlägen von Experten erforderlich machen.

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Björn Lomborg hat sich in seinem Buch "Apocalypse No! Wie sich die menschlichen Lebensgrundlagen wirklich entwickeln" insbesondere mit den Risikodiskursen zur Umweltproblematik befaßt. Er demaskiert die meisten Diskurse zur Umweltproblematik als "Litaneien" und "Mythologien" und kontrastiert diese Diskurse mit der "wirklichen Lage der Welt". Mit der Tatsache,

l daß die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich steigt

l daß wir eine nie dagewesene Zunahme des menschlichen Wohlstandes registrieren können (ein US-Bürger ist jetzt 36mal so wohlhabend wie vor 200 Jahren, der Anteil der hungernden Menschen ist weltweit von 35 Prozent auf 18 Prozent dramatisch zurückgegangen, der durchschnittliche Einwohner der Dritten Welt bekommt inzwischen 38 Prozent mehr Kalorien)

l daß in der Dritten Welt die Analphabetenrate von 75 Prozent auf 20 Prozent gesunken ist

l daß die Kindersterblichkeit weltweit sinkt

l daß viele akute und chronische Krankheiten zurückgedrängt wurden. "Wir laufen nicht mehr mit verfaulten Zähnen und stinkendem Atem, Eiterbeulen, Ekzemen, Scharf und Furunkel herum."

Gegenüber den larmoyanten Berufsbedenkenträgern und ökologischen Katastrophenpropheten gibt er zu bedenken, daß die meisten Katastrophenszenarien nicht eingetreten sind. Im Gegenteil: Die Welt wird mit immer besserer Nahrung versorgt, die Luftverschmutzung wurde in den Städten der industrialisierten Welt reduziert, die Meere sind nicht verdreckt, die Flüsse sauberer geworden, die Ozonschicht zerstörende Faktoren wurden erkannt und gebremst, der saure Regen hat die Wälder nicht sterben lassen und der behauptete Verlust der Arten findet so nicht statt.

Die Bedeutung der Umweltverschmutzung wird dabei systematisch überschätzt. Wie gefährlich und lebensbedrohlich die Umweltverschmutzung tatsächlich ist, zeigt sich an ihrem Anteil an den Todesfällen der zehn wichtigsten Risikofaktoren. Dabei zeigt sich, daß die meisten verlorenen Lebensjahre durch Hunger, Mangel an sauberem Trinkwasser und durch unzureichende Hygiene bedingt sind. In den sogennannten Entwickelten Ländern geht die verkürzten Lebenszeit in erster Linie auf das Konto von Tabakabusus, Alkohol- und Drogenmißbrauch, Bewegungsmangel, Bluthochdruck und Arbeitsplatzrisiken. Umweltrisiken wie Luftverschmutzung stellen dabei das kleinste aller bestehenden Risiken dar: Nur 0,6 Prozent der verlorenen Lebensjahre gehen auf das Konto von Luftverschmutzung.

In diesem Zusammenhang hat das Zentrum für Risikoforschung der Harvard-Universität herausgefunden, daß Umweltschutzmaßnahmen nicht nur wenig effektiv, sondern auch wenig effizient sind. Bei einem Vergleich der Effizienz bezüglich lebenserhaltender Maßnahmen aus den Bereichen Gesundheitswesen, Wohnung, Verkehr und Umwelt zeigte sich, daß die urchschnittlichen Kosten pro gerettetem Lebensjahr im Umweltbereich außerordentlich hoch sind. Während das Gesundheitswesen mit 19.000 Dollar pro gerettetem Lebensjahr sehr preisgünstig ist, fällt der Umweltbereich mit "phantastischen 4,2 Millionen völlig aus dem Rahmen".

So kommt die Harvard-Studie zu der überraschenden Erkenntnis, daß bei einer alternativen Verteilung der Finanzmittel, die nicht mehr die Umweltthemen favorisiert, die Zahl der erhaltenen Lebensjahre sehr viel größer sein könnte. Würde man Gelder vom Umweltbereich in andere Interventionsbereiche stecken, so könnten für das gleiche Geld statt 592.000 auch 1.230.000 Lebensjahre gerettet werden können. "Ohne zusätzliche Kosten hätte man weitere 600.000 Lebensjahre oder weitere 60.000 Menschenleben retten können." Doch ein solcher ökonomischer Kosten/Nutzen-Vergleich verschiedener Interventionsmaßnahmen wird von der Politik nicht durchgeführt. Sie folgt unkritisch der Ideologie, daß Umweltmaßnahmen in jedem Fall sinnvoll sind und daß sie öffentlich gefördert werden müssen, ohne über eine alternative Allokation der Finanzmittel nachzudenken. Die amerikanischen Umweltausgaben haben sich seit 1962 versiebenfacht, während sich das BIP nur ungefähr verdreifacht hat. 227 Milliarden Dollar (2,4 Prozent des BIP) schaufelte die US-Regierung 1999 in den Umweltbereich!

Es geht dabei nach Lomborg nicht um die Abschaffung von Umweltschutzmaßnahmen, es geht um vernünftige Prioritätensetzung, um die Frage, was man mit welchen Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen erreichen kann. "Wir müssen beim Abwasch die Teller saubermachen, aber nicht weiter auf ihnen herumpolieren, wenn sie schon zu 99,9 Prozent rein sind." Zornig zieht Lomborg das Resümee: " Mit einer groben, aber treffenden Metapher könnte man sagen: Wenn wir nicht wahrhaben wollen, daß unsere umweltpolitischen Entscheidungen auf Kosten entsprechender Regulationsmaßnahmen in anderen Bereichen gehen, begehen wir faktisch statistischen Mord. Und die Harvard-Studie weist uns darauf hin: Würden wir uns mehr um die Effizienz als um die Litanei kümmern, dann könnten wir jedes Jahr weiteren 60.000 Amerikanern das Leben retten - ohne irgendwelche zusätzlichen Kosten."

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum die oben beschriebenen ökologischen Risikodiskurse eine solche gravierende gesellschaftliche Penetranz aufweisen. Ohne Zweifel hängt dies mit der "Umweltschutz-Industrie" zusammen, einem Kartell von Umweltschutzverbänden, politischen Parteien, wissenschaftlichen Instituten und medialen Interessenvertretern, die allesamt von der gesellschaftlichen Anschlußfähigkeit und Omnipräsenz dieser Diskurse leben. Organisationen, die einmal in der Welt sind, schaffen im gesellschaftlichen Kollektivbewußtsein die Problemlagen, die ihre Existenz legitimieren, unabhängig davon, wie dringend die Probleme sind, derentwegen sie letztlich entstanden sind. Die "Umweltschutz-Industrie" unterstützt dabei die Neigung des Menschen, große Risiken zu unterschätzen und kleine zu überschätzen.

Um öffentliches Interesse zu wecken, überschütten uns die Medien mit Katastrophenmeldungen und Unglücksfällen. Diese haben mit den wirklichen Risiken des Lebens fast nichts zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, an einem Mord oder durch einen Flugzeugabsturz zu sterben, ist äußerst gering. Trotzdem beherrschen diese außergewöhnlichen Todesfälle - eben weil sie außergewöhnlich sind - die Medien und vermitteln den Eindruck des massenhaften Auftretens. Besonders neigen wir dazu, Risiken herunterzuspielen, die wir selbst eingehen.

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Mehr oder weniger ausgeschlossen aus den harten, formalisierten und durchrationalisierten Sozialbeziehungen der Moderne, verschafft sich das Individuum durch das Leiden an den Verhältnissen, durch seine Opferrolle, das Gefühl des Subjekt-Seins.

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Psychologische Basis dieses Effekts scheint die Tatsache zu sein, daß sehr unwahrscheinliche Risiken überschätzt werden, wenn man ihnen unfreiwillig ausgesetzt ist, wohingegen man Risiken herunterspielt, auf die man sich freiwillig einläßt. So können Risikoszenarien zusammengebastelt werden, die Menschen das Fürchten lehren. Risiken, die keinerlei Relevanz für den Lebensalltag haben, werden zu Auslösern von Vermeidungsverhalten. Das Auftreten von einigen wenigen mit Vogelgrippe verseuchten Vögeln auf Rügen im Februar führt zu einer Urlaubsstornierungswelle in ganz Mecklenburg-Vorpommern für den Sommer! Offensichtlich brauchen die Menschen etwas, wovor sie sich fürchten.

Wie Pascal Bruckner in seinem lesenwerten Buch "Ich leide, also bin ich" feststellte, stilisiert die moderne Gesellschaft die Opferrolle als Ausdrucksform der Subjektivität. Mehr oder weniger ausgeschlossen aus den harten, formalisierten und durchrationalisierten Sozialbeziehungen der Moderne, verschafft sich das Individuum durch das Leiden an den Verhältnissen, durch seine Opferrolle, das Gefühl des Subjekt-Seins. So braucht man keine Angst mehr zu haben, um Angst zu zeigen. Durch die Übernahme der Opferrolle muß man versorgt und hofiert werden, die Viktimisierung ermöglicht die "Erhöhung der Verworfenen" (Nietzsche). Umweltmythen sorgen dafür, daß der Angstkommunikation der Stoff nicht ausgeht, und die Leute fallen weiter auf diesen Bluff herein.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema "Deutschland geht in Rente" (JF 29/06).


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