© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Kolumne
Gegenwärtige Schuld
Rolf Stolz

Wer möchte nicht für die gesammelten Schweinereien seines Lebens das Bundesverdienstkreuz erhalten? Welcher Gangster möchte nicht, daß man zumindest gnädig beschweigt und verdrängt, was an blutverkrustetem Schmutz hinter der sorgfältig gestärkten weißen Weste lauert? So menschlich-allzumenschlich denken auch die polnischen Chauvinisten, die seit Wochen über die überfällige und im übrigen harmlos-zahnlose Berliner Vertriebenenausstellung geifern. Anders als ihre Pendants in Deutschland sind diese Leute nicht eine obskure Randerscheinung, sondern beherrschen die Regierung und den gesellschaftlichen Meinungsstreit.

In allen Ländern Europas ist es seit zweihundert Jahren eine historische Regel, daß am Rand heroischer freiheitlicher Nationalbewegungen sich ein Bodensatz aus Dummheit, Bosheit und Fanatismus festsetzt, der in Polen mit dem Panslawismus begann und bei den Morden an Deutschen 1945 und den Massakern gegen Juden 1941 in Jedwabne und 1946 in Kielce seinen traurigen Höhepunkt erreichte. Es gibt in der Tat keine Kollektivschuld von Völkern und Nationen. Große Kollektive - auch die Wehrmacht, auch die NSDAP, aber ebenso SED oder KPdSU - tragen immer die jeweils besondere Schuld der Einzelpersonen, je nachdem, ob diese Anführer, Mittäter, Mitläufer oder Mitgezwungene waren. Daher geht es heute nicht um die überlebenden polnischen Mörder, also um einige hundert Greise. Deren gezielte Nicht-Bestrafung ist ein Verbrechen, aber die zweite, die gegenwärtige Schuld Polens besteht in anderem: Der polnische Staat, die regierenden Brüder und große Teile des Volkes rechtfertigen den Raub Ostdeutschlands weiter als verdiente Entschädigung und als Polen auch von den Vereinigten Staaten und Großbritannien zugesprochene Kriegsbeute, und sie stellen die Massenvertreibungen hin als Bestrafung Schuldiger oder als unvermeidliche Begleiterscheinung eines "Bevölkerungstransfers".

Polen bleibt mit oder ohne Europäische Union das Land zwischen Deutschen und Russen. Soll es zur Brücke werden, statt feindlicher Vorposten oder Aufteilungsopfer in spe zu sein, dann muß das Land die Annexionen des Jahres 1945 als von Anfang an verbrecherisch und nichtig begreifen und behandeln. Dann muß die späte, aber nicht zu späte Einsicht, daß jede Vertreibung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Menschheit ist, endlich dazu führen, geschichtliche Verantwortung, Trauerarbeit, Wiedergutmachung und Sühne an die Stelle grimmiger Verstocktheit und selbstzerstörerischer Lügen treten zu lassen.

 

Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen und lebt als Publizist in Köln.


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