© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/06 01. September 2006

Die Folgen des aufgestauten Hasses
Libanon: Amnesty International wirft Israel Kriegsverbrechen vor / Studie über Hisbollah-Miliz soll folgen / Auch Diskussion in USA und Israel selbst
Günther Deschner

Seit fast drei Wochen herrscht im südlichen Libanon und an der Grenze zu Israel Waffenstillstand. Eine UN-Friedenstruppe unter deutscher Beteiligung soll ihn sichern, bis irgendwann (vielleicht) einmal Frieden geschlossen wird. Die Kriegsparteien haben inzwischen Bilanz gezogen: Israels Luftwaffe hat über 7.000 Angriffe auf rund 7.000 Ziele geflogen. Hinzu kam 2.500mal Artilleriebeschuß durch die israelische Marine.

Es gab 1.100 Ziviltote auf libanesischer Seite, davon ein Drittel Kinder. 4.000 Menschen wurden verletzt und 970.000 mußten fliehen - jeder vierte Libanese. Auf israelischer Seite starben knapp 160 Soldaten und Zivilisten bei militärischen Kämpfen und Hisbollah-Raketeneinschlägen.

Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht

Beide Parteien betreiben jetzt diskret oder öffentlich Manöverkritik und spielen das übliche Spiel aus gegenseitigen Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Daß beide Seiten Kriegsverbrechen und Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht begangen haben, ist nicht neu - und angesichts der über Jahrzehnte gewachsenen gegenseitigen Abneigung und des aufgestauten Hasses auch keine Überraschung.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (ai) hat letzte Woche eine aufsehenerregende Dokumentation über zahlreiche Völkerrechtsverstöße der israelischen Seite vorgelegt. "Viele israelische Angriffe", heißt es in dem 22seitigen Papier, "waren vorsätzlich, unverhältnismäßig und unterschieden nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen. Die israelische Regierung hat in diesen Fällen Kriegsverbrechen begangen. Muster, Reichweite und Ausmaß der Angriffe machen Israels Behauptung, daß es sich dabei um sogenannte Kollateralschäden im Rahmen rechtmäßiger Angriffe gehandelt habe, schlicht unglaubwürdig." Amnesty vermutet, daß Israel gegenüber der libanesischen Bevölkerung eine Politik der Bestrafung verfolgt habe, um die Menschen gegen die Hisbollah aufzubringen.

Die ai-Rechercheure haben es sich nicht leicht gemacht. Ihr Bericht basiert auf den Ergebnissen einer Amnesty- International-Delegation, die mehrere Wochen im Libanon tätig war. Die Ermittler sprachen mit Opfern, Uno-Beamten, Vertretern der israelischen Armee und der libanesischen Regierung. Zeitgleich hat eine andere ai-Delegation in Israel Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht durch die libanesische Hisbollah-Miliz untersucht. Eine entsprechende Dokumentation auch darüber ist angekündigt.

Für den ai-Vorwurf der "Unverhältnismäßigkeit" gibt es viele Beispiele. Eines davon ist ein Luftangriff, der Hassan Nasrallah, den Chef der Hisbollah, töten sollte: 23 Tonnen Bomben wurden auf einen Gebäudekomplex in Beirut abgeworfen, weil sich Nasrallah einer unzutreffenden Agentenmeldung zufolge in einer der Wohnungen aufhalten sollte. Das ganze Stadtviertel lag in Schutt und Asche, Nasrallah trat nach dem Luftangriff im Fernsehen auf.

"Vorsätzliche Zerstörung" zur "Bestrafung der libanesischen Bevölkerung", heißt ein anderes Kapitel des ai-Berichts. Im Süden des Libanon gebe es kein Dorf mehr, in dem nicht immer auch der örtliche Supermarkt angegriffen worden sei, heißt es. Es gebe sogar Dörfer, in denen nur der Supermarkt zerstört worden sei. Ob bei Angriffen auf Tankstellen, Pumpwerke oder Geschäfte: Immer seien die Schläge sehr präzise gewesen.

Einige solcher "vorsätzlicher Zerstörungen" ragen heraus: Gleich zweimal, am 13. und 15. Juli hatte die israelische Luftwaffe das Kraftwerk in Dschija südlich von Beirut bombardiert. Das E-Werk diente allein der Versorgung der Bevölkerung. Da die Anlage direkt an der Küste stand, flossen 15.000 Tonnen Schweröl ins östliche Mittelmeer. Die größte Ölpest, die es im Mittelmeer je gegeben hat, ist die Folge.

Ein anderer Vorwurf betrifft den Einsatz sogenannter "Cluster-Bomben" (Streubomben) in bevölkerten Gebieten, der viele zivile Todesfälle und zahllose Verletzte verursachte. Immer mehr Staaten fordern ein Verbot dieser Bomben, die bis zu tausend Teilsprengkörper enthalten, von denen bis zu ein Drittel nicht gleich explodiert, sondern - Minen gleich - noch Jahre nach einem Krieg Menschenleben gefährdet.

"Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung"

Für die Präsentation Israels als "Leuchtfeuer der Demokratie" und Repräsentant "westlicher Werte" in der Nahostregion ist der ai-Bericht ziemlich abträglich. Amnesty steht mit seiner Kritik ja auch keineswegs allein. Selbst die USA untersuchen laut New York Times ob Israel seine von Washington gelieferten Streubomben "vertragswidrig" verwendet habe - nämlich nicht nur zur Abwehr konventioneller Truppen, sondern auch zum Einsatz in Wohngebieten.

Auch andere Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) kommen zu einem deutlichen Urteil: Die israelischen Angriffe im Libanon zeigten, so Kenneth Roth, der Direktor der HRW, "eine verstörende Mißachtung des Lebens libanesischer Zivilisten". Einige der Angriffe kämen Kriegsverbrechen gleich. Israels Erklärung, die Hisbollah verstecke sich hinter Zivilisten, sei vielfach unzutreffend und könne die "wahllose israelische Kriegführung" nicht rechtfertigen.

Und der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Jakob Kellenberger, warf Israel vor, die Genfer Konventionen zu verletzen, da die israelische Armee damit drohte, Hilfskonvois militärisch anzugreifen. Kellenberger wies Israels Behauptung zurück, der Abwurf von Flugblättern mit der Warnung vor bevorstehenden Luftangriffen rechtfertige Gewalt gegen Zivilisten. "Das Abwerfen von Flugblättern entbindet nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der internationalen Menschenrechte."

Auch in Israel selbst gab und gibt es teils lautstarke Kritik an Auswüchsen bei der "Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung", wie sie schon seit Jahren auch bei Einsätzen in den Palästinensergebieten festgestellt worden sind: Im September 2003 wurden 27 israelische Piloten, die "unmoralische und illegale" Befehle verweigern wollten, vom Dienst suspendiert. In einem offenen Brief an den Luftwaffenchef Dan Halutz (heute ist er der umstrittene Generalstabschef) hatten sie angekündigt, unschuldige Zivilisten nicht mehr angreifen zu wollen.

Die Amnesty-International-Studie trägt den Titel "Israel/Lebanon - Deliberate destruction or 'collateral damage'? Israeli attacks on civilian infrastructure". Sie findet sich auf englisch im Internet: http://web.amnesty.org/library/Index/ENGMDE180072006 

Foto: Libanese mit totem Mädchen in Kana: "Unverhältnismäßigkeit"


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