© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Am Rande des Bürgerkriegs
Andreas Mölzer

Mit hanebüchenen Argumenten warb Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso bei einer Konferenz des französischen Arbeitgeberverbandes Medef für den EU-Beitritt der Türkei. In den höchsten Tönen lobte der portugiesische Ex-Ministerpräsident die "strategische Bedeutung" des islamischen Landes, pries die ökonomischen und demokratischen Reformen, welche in den letzten Jahren durchgeführt worden seien und behauptete schließlich allen Ernstes, mit der Aufnahme Ankaras könne Europa Stabilität importieren.

Die jüngsten Ereignisse in der Türkei zeigen jedoch, was von Barrosos unverhohlener Bei-trittspropaganda zu halten ist. Im Westen des Landes, fernab der kurdischen Siedlungsgebiete, zündete eine bislang unbekannte Untergrundorganisation mehrere Bomben. Und die Osttürkei, wo Gefechte zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Rebellen auf der Tagesordnung stehen, gleicht inzwischen wieder einem Bürgerkriegsgebiet.

Während nun die EU-Polit-Nomenklatura die Anschlagsserie scharf verurteilt, schaute sie in der Vergangenheit über die offene Diskriminierung religiöser und ethnischer Minderheiten durch Ankara hinweg, weil die Türkei-Lobby nicht verärgert werden sollte. Und die von Barroso gelobten "beachtlichen demokratischen Reformen" entspringen dem Wunschdenken der Erweiterungsphantasten. Denn Strafrechtsbestimmungen wie die "Beleidigung des Türkentums" ermöglichen es der türkischen Staatsmacht, mißliebigen Kritikern den (kurzen) Prozeß zu machen. Wird die Regierung in Ankara die Täter verfolgen, verhaften und vor Gericht stellen, wie es den Gepflogenheiten eines europäischen Rechtsstaates entspricht, oder wird sie den Traditionen des Orients folgend eine neue Repressionswelle gegen die Kurden beginnen? Das bisherige Verhalten läßt jedenfalls Schlimmes befürchten. Denn bald nach dem Wiederaufflammen der Kurdenunruhen wurde das sogenannte Antiterrorgesetz verschärft und damit die Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt.

Entgegen den Behauptungen Barrosos würde Europa im Falle eines Türkeibeitritts nicht Stabilität exportieren, sondern Instabilität importieren. Neben der Gefahr, in den jahrhundertealten türkisch-kurdischen Konflikt hin-eingezogen zu werden, liefe Europa auch Gefahr, zum Frontstaat im Nahen Osten zu werden. Und daß die Türkei eines Tages selbst Kriegspartei werden könnte, ist nicht ausgeschlossen. Für besondere Brisanz sorgt in diesem Zusammenhang der Bau des Ilısu-Staudamms am Oberlauf des Tigris in Südostanatolien.

Nicht nur, daß durch die Errichtung der gigantischen, über 1.800 Meter langen und 135 Meter hohen Staumauer die archäologisch bedeutsame antike Stadt Hasankeyf (kurdisch: Hesenkeyf) im wahrsten Sinne des Wortes untergehen würde. Vielmehr hätte Ankara nach der Fertigstellung dieses Projekts die Möglichkeit, die Wassermengen zu kontrollieren, die Syrien und der Irak künftig bekommen sollen. Weil in der Zukunft Kämpfe, wenn nicht sogar Kriege um den lebenswichtigen Rohstoff Wasser zu erwarten sind, ist das ein Grund mehr für Brüssel, das Türkei-Abenteuer zu beenden und die laufenden EU-Beitrittsgespräche mit Ankara unverzüglich abzubrechen.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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