© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/06 08. September 2006

Sie, acht Jahre, verwitwet
Kino: "Water" von Deepa Mehta zeigt die Hölle inmitten des Paradieses
Claus-M. Wolfschlag

Indien im Jahr 1938: Der Vater weckt die achtjährige Chuyia (Sarala) und fragt, ob sie sich noch an ihre Hochzeit erinnere. Ihr Mann sei nun verstorben. Tags drauf bringen die Eltern das Kind in ein Heim, in dem hinduistische Witwen ihr Leben als Buße fristen müssen.

Die Frauen werden in den klosterartigen Ashram geschickt, um dort ihr "schlechtes Karma" zu sühnen, das für den Tod des Mannes verantwortlich sein soll. Das kleine Mädchen versteht nicht, was mit ihm geschieht. Wie jeder Witwe werden ihm die Haare geschoren. Es wird unter die Obhut der älteren Frauen gestellt. Madhumati (Manorma), Mitte siebzig, fett und marihuanasüchtig, regiert das Haus autoritär. Ihren Anweisungen haben sich alle zu fügen.

Chuyia schließt rasch die hübsche Kalyani (Lisa Ray) in ihr Herz. Kalyani trägt als einzige Witwe langes Haar. Das ist ein Zugeständnis an ihren Beruf, denn sie dient des nachts als Hure in den Villen reicher Männer. Mit ruhiger Gelassenheit erträgt sie ihr Dasein, da es ihr Karma sei. Kalyani erbringt der Gemeinschaft Geld, wird aber von den anderen Frauen weitgehend gemieden, da naher Kontakt zur Beschmutzung von deren Reinheit führe. In dieser Situation lernt Kalyani den aufgeklärten jungen Juristen Narayan (John Abraham) kennen, der sich spontan in sie verliebt. Narayan ist Anhänger westlich beeinflußter Reformideen und hält um die Hand der jungen Frau an - an sich eine Unmöglichkeit. Eine Liebe entsteht, die angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Scheitern verurteilt ist.

Deepa Mehta wurde 1950 in Indien geboren, machte ihren Abschluß in Philosophie an der Universität Neu-Delhi und lebt seit 1973 in Kanada. Seit 1991 dreht sie Spielfilme. Ihr neuester Streifen spielt vor dem historischen Hintergrund des gewaltlosen Kampfes Mahatma Gandhis gegen die britische Kolonialherrschaft und des gesellschaftlichen Umbruchs in Indien. So legt Mehta das Augenmerk auf das Leiden von Frauen, teils kleinen Kindern, die in der patriarchalen hinduistischen Gesellschaft als Ware verschoben wurden. Viele dieser Sitten wurden zwar bereits durch die Briten verboten, dennoch halten sich manche Gepflogenheiten bis heute. Narayan führt sie in "Water" auf ökonomische Erwägungen zurück. Überflüssige Esser sollten aus den Familien verschwinden, somit wurden die Frauen entweder verbrannt oder verbannt.

Deepa Mehta thematisiert auch den Mitgiftmißbrauch. Die heute gesetzlich verbotene Mitgift geht auf die Entstehung des Privateigentums in Indien zurück. Die Beschäftigung einer Braut aus einer höheren Kaste außerhalb des eigenen Haushalts war nicht möglich. Die Mitgift diente deshalb der materiellen Absicherung der Frau nach dem Eheschluß. Doch sie entwickelte sich schließlich zu einer rein wirtschaftlichen Transaktion zwischen zwei Familien, durch die Frauen bei einem sozial möglichst hochstehenden Bräutigam eingekauft wurden.

In der brahmanischen Patriarchie hatte die Frau aber nach dem Tod ihres Mannes keine unabhängige soziale Existenz. Als ideale Gefährtin hatte sie ihrem Gatten in den Tod zu folgen, um seine und ihre Sünden zu sühnen. Witwen galten als Gefahr für die Gesellschaft, da sie Männer in Versuchung führen konnten und dem Seelenheil des verstorbenen Gatten Schaden hätten zufügen können. Witwenverbrennungen wurden schon 1824 offiziell verboten, auch wenn sich das Gesetz nur sehr langsam durchsetzte. Alternativ mußten Witwen in Askese ihr Leben verbringen und unterlagen einem Wiederverheiratungsverbot.

Deepa Mehta legt ihre Finger also in eine Wunde. Das führte allerdings auch zu Protesten fundamentalistischer Hindu-Gruppen, unter anderem der "Shiv Sena" von Bal Thackeray. Das deutsche Presseheft spricht einfach von "rechtsextremen" Hinduisten. Dem hiesigen Leser wird demnach die Chiffre "Rechtsextremist" nun schon weltweit für jede nicht-liberale Denkströmung zugepaßt, damit er auch ja versteht, welche Haltung er mißbilligen soll.

Nach massiven Protesten und tätlichen Angriffen von Randalierern gegen das Filmset mußten die Dreharbeiten in Indien abgebrochen werden. Zudem bekam die Regisseurin zahlreiche anonyme Drohanrufe. Nachdem ein Demonstrant aus Protest gegen die Dreharbeiten Selbstmord im Ganges verübte, stoppte die örtliche Regierung das Projekt mit Verweis auf die "öffentliche Sicherheit". Mehta mußte ins Ausland, nach Sri Lanka, ausweichen. Und erst nach fünf Jahren konnte sie den Film mit neuer Besetzung und unter höchster Geheimhaltung auf die Beine stellen.

"Water" ist ein Streifen mit eindeutiger politischer Ausrichtung. Dennoch rührt die Geschichte an, weil sie sehr nah und eindringlich bei den Frauen und ihrem Schicksal bleibt. So ist ein Film mit durchaus romantisch-märchenhaften Zügen entstanden, deren exotische Schönheit in ruhigen Bildern einnimmt: Zimmer mit Dutzenden flackernden Kerzen, Blüten im Wasser, weiße Villen am dunklen, nächtlichen Fluß. Inmitten dieses Paradieses lebt es sich wie in der Hölle.

Foto: Kalyani (Lisa Ray) im noblen Innenhof der Villa eines Freiers: Witwen wurden verbannt oder verbrannt


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