© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Kein Vorbild für Kosovo und Bosnien-Herzegowina
Transnistrien II: Das geplante Referendum taugt nicht als Exempel für eine neue Völkerrechtspraxis / Vereinigung mit Russischer Föderation fast unmöglich
Wolfgang Seiffert

Die kleinen Völker und ethnischen Minderheiten, die eigentlich am Rande des großen politischen Geschehens stehen, sind dennoch oft Leidtragende der geschichtlichen Entwicklung. Das trifft auf Transnistrien in besonderer Weise zu. Die Transnistrische Moldauische Republik - oder Pridnestrovskaia Moldavskaia Respublika (PMR/"Cisnistrische Moldauische Republik"), wie sie seit 2000 offiziell genannt werden soll - mit der Hauptstadt Tiraspol ist ein international nicht anerkannter Staat innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen des Uno-, Europarats- und OSZE-Mitgliedsstaates Moldau (Moldawien).

Zum aktuellen Konflikt kam es nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Nachdem sich die bis dahin zur UdSSR gehörende Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik für unabhängig erklärt hatte, folgte am 27. August 1991 die Souveränitätserklärung. Die slawische Minderheit (Russen und Ukrainer) fürchtete - nicht völlig zu Unrecht -, die moldauische Zentralregierung in Kischinew (Chişinău/Kischinjow) würde eine (Wieder-)Vereinigung mit Rumänien anstreben.

Unter dem Vorsitz von Igor Nikolajewitsch Smirnow bildete sich zunächst ein "provisorischer" Oberster Sowjet in der östlich des Flusses Dnister (Nistru/Dnjestr) gelegenen Stadt Tiraspol - zwischen 1929 und 1940 Hauptstadt der Moldauischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, einer kleinen Teilrepublik der ukrainischen Sowjetrepublik, die allerdings größere Gebiete östlich der heutigen Grenze umfaßte, darunter Balta.

Die Entwicklung nach dem Zerfall der Sowjetunion führte schließlich zum offenen Bürgerkrieg, der durch Vermittlung der unter dem Befehl von General Alexander Iwanowitsch Lebed stehenden 14. russischen Armee, die hier stationiert war, am 25. Juli 1992 beendet wurde. Es kam zu einem Waffenstillstandsvertrag und einem Friedensabkommen. Dieses bestätigt einerseits die nationale Integrität Moldawiens, andererseits wurde Transnistrien das Recht eingeräumt, eine Volksabstimmung abzuhalten, falls die Moldau-Republik daran festhält, sich mit der Republik Rumänien zu vereinigen.

Transnistrien erklärte einseitig seine Unabhängigkeit, was von Rußland unterstützt wurde. 1992 wurde Smirnow Präsident von Transnistrien. Unter Smirnow gelang es der Dnjestr-Republik, staatliche Strukturen zu entwickeln - einschließlich militärischer. Praktisch ist Transnistrien heute ein autonomes Gebiet innerhalb Moldaus, das sich der Kontrolle der Zentralregierung aber entzogen hat. Die daraus resultierende Unsicherheit ist auch der Grund, weshalb seit 14 Jahren russische "Blauhelme" als Friedenstruppe in der Region stationiert sind. Sie wirken mit Kontingenten aus Moldawien, der Dnjestr-Republik und der Ukraine zusammen.

Seit 1993 gibt es Verhandlungen zwischen Moldawien, der PMR, Rußland und der Ukraine, die inzwischen von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geleitet werden und eine Lösung für die komplizierte Situation in dieser Region bringen sollen. Doch bisher gab es keinerlei Fortschritte. Im Juli hat das PMR-Parlament entschieden, am 17. September auf dem Gebiet Transnistriens ein Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten.

Zwei Fragen werden bei der Volksabstimmung gestellt: "Unterstützen Sie den Kurs auf die Unabhängigkeit der PMR und den anschließenden freiwilligen Beitritt Cisnistriens zur Russischen Föderation?" und "Halten Sie einen Verzicht auf die Unabhängigkeit der PMR mit dem anschließenden Beitritt zur Republik Moldau für möglich?"

Daß das Referendum nicht nur die Unabhängigkeit Transnistriens von Moldau, sondern auch einen Anschluß an die Russische Föderation legitimiert, wirft brisante Fragen auf. Der russische Außenminister Sergej Lawrow jedenfalls betonte schon, daß Transnistrien (und das offiziell zu Georgien gehörende Abchasien) "russische Gebiete" seien, die "aus Rußland herausgerissen" worden seien. Er verwies dabei darauf, daß eine mögliche Lösung der Kosovo-Frage (die derzeit in Wien verhandelt wird) durch dessen Unabhängigkeit von Serbien sicher Auswirkungen auf Transnistrien hätte.

Obwohl solche Aussagen wohl eher als diplomatische Versuchsballons einzuschätzen sind, werden zahlreiche Spekulationen bezüglich der Auswirkungen des Referendums am 17. September angestellt. Da wird gefragt, ob die Ukraine dann einen Korridor zwischen Rußland und Transnistrien bereitstellen müsse. Oder ob eine "Unabhängigkeit" Transnistriens nicht auch eine Unabhängigkeit des Kosovo beschleunige.

Die Vermutungen ließen sich fortsetzen, wenn man etwa nach Bosnien-Herzegowina blickt. Hier hoffen die Serben der Republika Srpska auf einen Austritt aus dem ungeliebten Kunststaat und eine Vereinigung mit Serbien. Die Kroaten der Herzegowina könnten folgen und den Anschluß an Kroatien fordern.

Doch alle Spekulationen und Vergleiche müssen unter dem gegenwärtig geltenden Völkerrecht betrachtet werden. Hier gäbe es für Transnistrien dann eine Chance, wenn es sich als Grenzlandvolk dem Nachbarstaat Ukraine anschließen wollte - wie es bis 1940 ja Realität war. Das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht sieht vor, daß nationale Minderheiten, die Grenzlandvölker sind, aus dem Staat, zu dem sie bisher gehören, austreten und sich an einen anderen Staat anschließen können.

Für einen Anschluß an Rußland bedürfte eine solche Entscheidung jedoch der Zustimmung der Ukraine, da Transnistrien zwar an die Ukraine, nicht aber an Rußland grenzt. Smirnow machte dennoch unmittelbar vor dem Referendum klar, daß das Ziel der Abstimmung die volle Integration in die Russische Föderation ist. Dabei ist die Interessenlage klar: Die meiste Industrie Moldawiens ist in Transnistrien angesiedelt.

Deshalb dürfte Rußland dafür, Moldawien dagegen sein. Die OSZE, die sich bemüht, in dem Konflikt zu vermitteln, hat allerdings schon erklärt, sie werde das Abstimmungsergebnis nicht anerkennen. Ein späteres Referendum würde man dann anerkennen, wenn es das Ergebnis internationaler Verhandlungen sei und die Bedingungen für einen freien und gerechten Urnengang gegeben seien.

Unmittelbare Auswirkungen wird das Referendum also zunächst nicht haben. Damit sind Vergleiche mit dem Kosovo oder Bosnien schon sehr begrenzt. Dennoch dürfte ein Referendum, in dem sich die Mehrheit der Bürger für die Unabhängigkeit Transnistriens ausspricht, die Position der russisch-ukrainischen Minderheit in Moldawien wesentlich stärken.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht in Kiel. Er lehrte auch am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. In seinem Buch "Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung", Baden-Baden 1992, Seite 70 ff. findet sich ein Abschnitt über das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten in Grenzgebieten.


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