© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

CD: Klassik
Zuviel des Guten
Andreas Strittmatter

Einem hohen Gast setzt man kein rasch aufgewärmtes Essen vor, denn das wirft kein gutes Licht auf die Küche. In Sachen Ohrenschmaus wird Fürst Nikolaus, der sein Landschloß Esterházy zu einem "ungarischen Versailles" umgestalten ließ und sich den Beinamen "der Prachtliebende" verdiente, ähnlich gedacht haben, nachdem sich 1782 der russische Großfürst Pawel Petrowitsch, der spätere Zar Paul, samt Gattin ankündigt hatte.

In dem nach einem Brand gerade vor Jahresfrist wieder errichteten Opernhaus sollte Kapellmeister Joseph Haydn zu Ehren des Gastes eine Oper aufführen, und zwar eine neue. Da - Besuch hin oder her - ohnehin geplant war, ein Stück des zeitweilig auch in Dresden und Braunschweig arbeitenden Italieners Pietro Alessandro Guglielmi auf die Bühne zu bringen, übernahm Haydn schlußendlich aus dessen 1771 für London komponierten Dramma giocoso "Le pazzie di Orlando" den Text und komponierte das Werk neu: Als Dramma eroicomico "Orlando Paladino" wurde es am 6. Dezember zum Namenstag des Fürsten uraufgeführt. Der russische Gast war übrigens nicht mit von der Partie; der hatte sich zwischenzeitlich eine andere Reiseroute überlegt.

Obschon der fürstliche Hofkapellmeister zwischen 1766 und 1791 ein gutes Dutzend größerer Werke für die Bühne komponierte und diese Opern in eigener Einschätzung über seine Arbeiten im Bereich der Instrumentalmusik stellte, steht der Opernkomponist Haydn heute tief im Schatten des Symphonie- und Kammermusikschöpfers. Das spiegelt sich auch auf dem Tonträgermarkt - kaum ein Werk liegt in mehr als einer Handvoll Einspielungen vor.

Von "Orlando Paladino" existierte bislang nur eine solide, von Antal Dorati betreute Aufnahme aus dem Jahr 1976, mithin weitestgehend unbeleckt von den jüngeren Erkenntnissen einer an historischen Aufführungspraktiken orientierten Interpretation. Diese legte nun Nikolaus Harnoncourt mit seinem Concentus Musicus Wien nach, leider teilweise mit rigiden und der Dramaturgie nicht immer dienlichen Kürzungen in den Rezitativen. Dennoch ist dieser Mitschnitt eines Styriate-Konzertes aus Graz eine willkommene Bereicherung für jeden Plattenschrank - und angesichts des Mozartjahres eine willkommene Abwechslung obendrein.

Zum Esprit des Werkes gehört Haydns Kunst, die Figuren stets ein wenig zu überzeichnen. So schleicht die Königin Angelica immer etwas zu sehr von Schwermut umflort durch die Gegend (und Patricia Petibon leiht ihr dazu betörende Piani, Liebesseufzer und Klagelaute), krakeelt der Krieger Rodomonte mit großem Maul am laufenden Meter (wie sich's in Sachen Koloratur und Passagio der Kunst gemäß "krakeelen" läßt, stellt der Bariton Christian Gerharer unter Beweis), verlegt sich Angelicas Gefährte Medoro gerne aufs Schmachten (wobei man sich bei Werner Güra gelegentlich noch eine geschmeidigere Stimme wünschen könnte) oder gibt Pasquale sozusagen den kleineren Bruder von Mozarts Leporello. Inbegriffen eine Registerarie, bei der es aber nicht um flachgelegte Frauen geht, sondern um die Frage, wie Mann Frau dazu bekommt, ihn durchzufüttern (Markus Schäfer agiert mit vokal-tenoralem Spielwitz).

Nur einer tanzt in diesem auf je eigene Art emotional hyperventilierenden Volk aus der Reihe - ausgerechnet die Titelfigur, Orlando, den Haydn nicht ausschließlich als den "rasenden Roland" der literarischen und opernhistorischen Tradition ins Getümmel schickt. Während die in der Musik beschriebenen Gefühlshaushalte anderer schon längst jenseits von Gut und Böse liegen, bleiben Orlandos Emotionen authentisch: "Nur der echt Wahnsinnige ist wahnsinnig echt", wie es das Begleitheft dieser zupackenden Einspielung treffend formuliert.


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