© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Mehrheiten
Karl Heinzen

Während der Wählerzuspruch für die SPD auf Bundesebene allen einschlägigen Umfragen zufolge schon seit längerer Zeit relativ stabil unter der 30-Prozent-Marke bleibt, befinden sich nun auch die Sympathiewerte der Union im freien Fall auf diese Schwelle zu. Die Zeiten, in denen eine sogenannte "Große Koalition" selbstredend für eine Zweidrittelmehrheit im Parlament stand, sind offenbar vorbei. Letztendlich ist dies im Interesse unserer demokratischen Ordnung: Die Überheblichkeit, mit der sich CDU, CSU und SPD ein halbes Jahrhundert lang zu "Volksparteien" erklärten, muß nicht mehr hingenommen werden. Sie sind Parteien wie andere auch, wenngleich das Bangen, die Fünf-Prozent-Hürde verfehlen zu können, bis auf weiteres allenfalls die sächsischen Sozialdemokraten beschleichen dürfte.

Die Mehrheit, die Union und SPD bei einer Bundestagswahl gemeinsam immer noch erzielen würden, kann zudem nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Ablehnung, auf welche die Politik der Großen Koalition bei den Bürgern stößt, überwältigend ist. 70 Prozent der Wähler haben an Merkels und Münteferings Kurs etwas auszusetzen. 69 Prozent der SPD- und 51 Prozent der Unions-Anhänger sind mit ihrer Partei unzufrieden. Dennoch werden sie damit nicht automatisch zu Wechselwählern. Es spricht für die Stabilität unserer Demokratie, daß selbst eine tiefgreifende Entfremdung von der "eigenen" Partei in der Regel ohne Konsequenzen für das Stimmverhalten bleibt.

Die Große Koalition in Berlin muß die Stimmung im Lande daher nicht als Mahnung zur Umkehr oder wenigstens Korrektur begreifen. Sie kann diese vielmehr sogar als Bestätigung ihrer Politik lesen. Die Bürger schauen in der Bewertung der Regierung nämlich in erster Linie auf ihre persönlichen Lebensumstände. Haben sich diese verschlechtert oder zeichnet sich eine Verschlechterung ab, so fällt ihr Urteil negativ aus. Sie verkennen dabei, daß eine Reform, die heute diesen Namen verdienen soll, eben gegen die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Menschen gerichtet sein muß, indem sie ihnen zur Entlastung derjenigen, die der Sozialpolitik nicht bedürfen, den Lebensstandard an allen Ecken und Enden beschneidet. Diesem Anspruch, daß es schmerzen muß, ist die Regierung Merkel von Anfang an in der Theorie verpflichtet, und sie wird ihm nun in der Praxis gerecht. Die Umfragen bringen die Erkenntnis der Bürger zum Ausdruck, weitere Einschränkungen hinnehmen zu müssen. Ein zuverlässigeres Indiz, daß die Reformen zu greifen beginnen, gibt es nicht.


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