© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/06 15. September 2006

Erschrocken über das unentrinnbare Geräusch
Im totalen Krieg gegen Deutschland verfolgten die Alliierten sogar "biopolitische" Ansätze zur Zerstörung des Feindes
Doris Neujahr

Selbst Arnold Gehlen war etwas ratlos: "Unergründlich, was in den jungen Menschen der Bundesrepublik vorgeht, die (...) gegen das anrennen, was sie für einen übermächtigen Staat halten oder für eine Gesellschaft von Unterdrückern anstatt von Eingeschüchterten. Hinter dem Rücken ihres Bewußtseins reagieren sie vielleicht gegen das Definitive, das Irreparable - die Niederlage, die sie gar nicht mehr erlebten, mit der Mentalität aufsässiger Geschlagener, aber ohne deren Erfahrung" (Moral und Hypermoral, 1969). Der Psychologe Herbert Speidel hat die Bußrituale als Ausdruck einer "masochistischen Moral" bezeichnet, die Anerkennung verschaffe und "in der Selbsterniedrigung eine pathologische Form nationaler Kohärenz" rette. (Heinz Nawratil: Der Kult mit der Schuld, 2002) Doch wenn der Masochismus sich zur Krankheit zum Tode auswächst, zerstört er auch die Kohärenz. In der Zeitschrift Merkur (12/2005) hat Andreas Krause Landt die Paradoxien des Schuldkults durchbuchstabiert und ist dabei auf einen weiteren Widerspruch gestoßen. Diejenigen, "die das deutsche Volk durch eine multikulturelle Bevölkerung ersetzen" wollten, "also durch ein kollektives Subjekt, das man kaum noch für den Holocaust verantwortlich machen kann", lösten den "schicksalhaften Zusammenhang von Schuld und Nation" auf, auf den sie andererseits insistierten.

Schrumpfung des deutschen Kollektivkörpers geplant

Wenn die Situation sich politisch, psychologisch, geschichtstheologisch nicht mehr erschließt, dann vielleicht medizinisch? Handelt es sich um eine kollektive Abnormität, die auf einen Eingriff in die biologisch-politische Struktur des Landes zurückgeht? Für solche Eingriffe steht der Begriff "Biopolitik", der zuletzt durch Giorgio Agamben ins Zentrum der Diskussion gerückt wurde ("Homo sacer", 1995/2002). Agamben verknüpft dreierlei: Michel Foucaults Theorie der "Biomacht", die durch politisch-medizinische Maßnahmen (Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik, Geburtenkontrolle, Lebensverlängerung oder Eugenik) auf die Individualkörper einwirkt, damit sie sich effektiver in die Institutionen (Arbeitswelt, Armee oder ähnliches) einpassen und zu einem effizienten Kollektivkörper formieren. Zweitens Hannah Arendts Überlegungen zum Konzentrationslager als dem Laboratorium "totaler Herrschaft", wo das "nackte Leben" der Biomacht "total" ausgeliefert ist. Drittens Carl Schmitts "Ausnahmezustand", der in den Lagern in Permanenz exekutiert wird. Agamben erkennt darin das "Paradigma der Moderne" (sie-he Guantánamo). Er erläutert seine Theorie anhand des Dritten Reiches, das die Hegemonie des "Ariers" herstellen wollte. Diese wurde aber mit der Niederlage im Krieg gründlich verfehlt. Um die aktuelle Situation im Land zu verstehen, müßte die übliche Perspektive um 180 Grad gedreht und geprüft werden, in welchem Maße die Deutschen zu Objekten äußerer Eingriffe wurden.

Laut dem Historiker Achatz von Müller hätten die Alliierten 1945 "der deutschen Gesellschaft eine Art Erziehungslager verschrieben", aus dem sie erst mit Ende der deutschen Teilung entlassen worden sei (Die Zeit, 44/ 2003). Müller nimmt den Gedanken nicht weiter ernst, obwohl er fruchtbar ist. Laut dem englischen Juristen Frederick John Partington Veale ist der Zweite Weltkrieg zum Zweck der "Einkreisung, Gefangennahme und Bestrafung mehrerer verbrecherischer Völker" geführt worden ("Zurück in die Barbarei", 1948/1953). Die "bedingungslose Kapitulation" bedeutete den Dispens der Deutschen von allen rechtlichen Absicherungen und ihre kollektive Überführung in den Ausnahmezustand (JF 27/06).

Der Satz des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau in Versailles, es gäbe zwanzig Millionen Deutsche mehr, als das europäische Gleichgewicht ertragen könne, enthält einen bio-politischen Denkansatz. Während des Zweiten Weltkrieges sollte ihre Zahl sich bedeutend verringern. Das schuf neue strategische Kräfteverhältnisse und Realitäten, die durch die Vertreibung besiegelt wurden. Er könne nicht einsehen, so Churchill am 15. Dezember 1944 im Unterhaus, "warum in Deutschland kein Platz für die Bevölkerung Ostpreußens und der anderen (...) Gebiete sein sollte. Schließlich wurden bereits sechs bis sieben Millionen Deutsche in diesem schrecklichen Krieg getötet (...). Überdies ist zu erwarten, daß noch mehr Deutsche in den Kämpfen des kommenden Frühjahrs und Sommers getötet werden ...". In Jalta rechnete er mit einer weiteren Millionen Toten (Stalin mit zwei), "daher sollte ein gewisser Raum für die auswandernde Bevölkerung vorhanden sein, und man wird sie brauchen, um Lücken auszufüllen". 1947 schlug der französische Außenminister auf der Moskauer Konferenz eine zusätzliche Massenauswanderung vor. Zwei Millionen Deutsche könnten von Frankreich und seinen Kolonien aufgenommen werden. In Groß-britannien sinnierte man über die Auswanderung junger Familien nach Übersee. Insbesondere Frauen könnten sich in Fabriken oder als Haushaltshilfen nützlich machen. Angedacht wurde auch eine großzügige Adoption deutscher Kinder, die sich rasch in ihrer neuen Umgebung assimilieren würden.

Noch wirksamer als die Schrumpfung des Kollektivkörpers war seine qualitative Umformung durch Einwirkung auf die Individuen. Für den britischen Chefpropagandisten Robert Lord Vansittart ging es um "eine geistige Erneuerung der dreisten Horde", die Deutschen sollten einer "geistigen Heilbehandlung" unterzogen werden, um ihnen "eine brandneue Art der Lebenseinstellung" zu implantieren. Dieses Programm wurde in mehreren Rundfunkreden in die Welt hinausposaunt.

Zerstörung der Kulturgüter optimiert Erziehungsarbeit

In den USA machte sich Theodore N. Kaufman in dem Buch "Germany must perish" (Deutschland muß sterben, 1941) Gedanken über eine Massensterilisierung, wie sie verschiedentlich auch Präsident Roosevelt unterstellt werden: "Wir müssen Deutschland hart behandeln, und ich meine das deutsche Volk, nicht nur die 'Nazis'. Wir müssen das deutsche Volk entweder kastrieren oder so mit den Deutschen verfahren, daß sie künftig keine Menschen mehr zeugen können, die den bisherigen Weg fortsetzen können." Wie Caspar von Schrenck-Notzing mitteilt (Charakterwäsche, 1965/ 2004), befindet sich in der Library of Congress ein späteres Deutschlandprogramm Kaufmans, in dem er seine Überlegungen von der chirurgischen auf die psychiatrische Ebene verlegt und die "Umerziehung" empfiehlt. Sebastian Haffner ventilierte gleichfalls medizinisch-biologistische Überlegungen. Er forderte im englischen Exil den "totalen Krieg" gegen Deutschland, das ein "riesiges Geschwür" sei, welches "aufgeschnitten" gehöre, damit ein "gründlicher Reinigungsprozeß" stattfinden könne. Er schlug die "physische Destruktion der mit dem Wolfsbazillus behafteten" Deutschen vor. Eines der "Hauptschlachtfelder" sollten "Körper und Seele jedes einzelnen Mannes des am Kriege beteiligten Volkes" sein. Der Krieg wird hier als entfesselte, gnadenlose Biomacht definiert. (Ralf Beck: Der traurige Patriot, 2005)

Ihr Eingriff erfolgte, erstens, über das "morale bombing", ein, wie Winfried Georg Sebald schreibt, "Krieg in purer, unverhohlener Form" (Luftkrieg und Literatur, 2001). Die Opfer seien nicht erbracht worden "auf der Straße zu einem wie immer gearteten Ziel, sondern sie (waren), im genauen Wortsinn, diese Straße und dieses Ziel selbst". Zum einen verringerte die Extermination Hunderttausender die Zahl der mit dem Wolfsbazillus Infizierten. Millionen wurden durch die Angst vor dem Getötetwerden, durch Schlaflosigkeit und Dauerstreß terrorisiert, was zur "Überladung und Lähmung der Denk- und Gefühlsapparatur" führte (W. G. Sebald). Daraus folgte kein Zusammenbruch der Kriegsmoral - die Menschen kamen ihren Pflichten weiter nach, immer apathischer und mechanischer zwar -, sondern die Abtrennung vom alten Ich, die Entpersönlichung.

Die Zerstörung privater Habseligkeiten wie der kollektiven Symbole, der Kultur- und Geschichtsgüter usw., an die sich Erinnerungen, ideelle Werte knüpften, optimierte die Erziehungsarbeit. Die Zerstörung der alten Städte erschien in der Vansittart-Logik gleichfalls als Teil der "Heilbehandlung", denn, wie Thomas Mann im "Doktor Faustus" (1947) schrieb - ein Schauplatz des Romans heißt sinnigerweise "Kaisersaschern" -, atmosphärisch hatte sich dort die "Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie" erhalten, eine "altertümlich-neurotische Unterteuftheit", ein "Rückständig-Böses". Eiterherde also, die ausgebrannt werden mußten. Ernst Jünger kommentierte die Zerstörungen lapidar: "Die Verbindung zum Mittelalter ist nun auch abgebrochen."

Zum anderen wurde das geschichtlich-kulturelle Selbstwertgefühl getroffen, im Alltag führte die Trümmerexistenz zum peinigenden Gefühl, einem "Rattenvolk" (W. G. Sebald) anzugehören. In Deutschland wurden die Folgen des Bombenkriegs kaum erforscht, während die Amerikaner sich sehr wohl dafür interessierten. Gert Ledigs Roman "Vergeltung" (1956/1999) und Jörg Friedrichs "Der Brand" (2002) sind, abgesehen von Sebald, die einzigen gelungenen Versuche, die Wirkung der Bomben narrativ zu erfassen. Letztlich kapitulierte auch Sebald vor seinem Material. Die These, der Luftkrieg hätte das Ziel gehabt, "die Deutschen durch die Zerstörung ihrer Stadt von ihrem Erbe und Herkommen abzuschneiden und so die dann in der Nachkriegszeit tatsächlich erfolgte Kulturinvasion und allgemeine Amerikanisierung vorzubereiten", hält er dann doch für eine rechtsextremistische Verschwörungstheorie.

Leiden mit der Strenge einer moralischen Notwendigkeit

Der zweite entscheidende Eingriff waren die Massenvergewaltigungen. Ob ausdrücklich die Absicht dahinterstand, den "Rassenhochmut der deutschen Frauen" zu brechen (Ilja Ehrenburg), oder nicht, sei dahingestellt. Nicht nur russische Soldaten waren beteiligt, wie betont werden muß, aber: "Der russische Siegesrausch manifestiert sich im Fleische. Im Fleisch unserer Frauen. Leibhaftig nehmen sie Stück für Stück der deutschen Erde in Besitz; leibhaftig zeugen sie Nacht für Nacht in sie hinein", versuchte die Berliner Journalistin Ruth Andreas-Friedrich im Tagebuch das körperlich und seelisch Elementare der Niederlage zu erfassen. (Schauplatz Berlin, 1984)

Das Geschlechter- und Rollenverständnis wurde tangiert. Margret Boveri beobachtete, daß die deutschen Männer flüchteten, wenn russische Soldaten ihren Tribut forderten, die Beschützerfunktion nicht wahrnahmen. Ihnen blieb nichts anderes übrig, wie sie wußte, und trotzdem: "Nach dem Mann, der mir imponiert, suche ich immer noch." (Tage des Überlebens. Berlin 1945, 1968 /2004) Für Frauen war es einfacher, über das Geschehene zu berichten, als den Männern. Egon Bahr, der 1945 Zeuge von Vergewaltigungen wurde, klingt in seinem Vorwort zum Boveri-Buch beschämt. "Ich habe nicht versucht, es zu verhindern. Margret Boveri fand mehrfach Anlaß, die Feigheit von Männern zu registrieren." Der DDR-Schriftsteller Werner Heiduczek, ein Oberschlesier, läßt einen parteifrommen Schriftsteller sich an die Vergewaltigung der Freundin erinnern, womit er "all die Jahre über nicht fertiggeworden" sei. (Tod am Meer, 1977) Nie geht es über Allgemeinplätze hinaus.

Die Männlichkeit des deutschen Mannes wurde irreparabel verletzt, oft im Wortsinne. "Unter Männern hatten die Deutschen versagt", es blieb nur die Regression zum Boden, zur "mutterähnlichen Sicherheit". (Alexander Mitscherlich, Großstadt und Neurose, 1965) Im Januar 1945 wurde in Ostdeutschland eine Frau vor der Familie vergewaltigt. Als der Mann versucht, die russischen Soldaten wegzureißen, genügt es ihnen nicht, ihn niederzuschießen, sie zerquetschen dem Sterbenden die Hoden. Während des Malmedy-Prozesses fügten die US-Vernehmer den beschuldigten Angehörigen der Waffen-SS - Repräsentanten eines soldatisch-heroischen Männlichkeitsideals und Leitbilds von "Schönheit, physischer Vollkommenheit und Überlegenheit des 'nordischen Herrenmenschen'" (Peter Reichel: Der schöne Schein des Dritten Reiches, 1991) - dauerhafte Verletzungen an den Genitalien zu. In den Nachkriegsromanen von Böll, Koeppen usw. ist der deutsche Mann ein Geschlagener, abgerissen, hungrig, unerotisch. Dagegen steht die sexuelle Attraktivität der Amerikaner, die nach frischer Seife duften, den Sieg, die Zukunft verkörpern.

Der dritte entscheidende Eingriff war der verordnete Hunger. Im Memorandum Roosevelts vom August 1944 wird er als Mittel eines Lern- und Umformungsprozesses herausgestellt: "Es ist von äußerster Wichtigkeit, daß jeder Mensch in Deutschland begreifen sollte, daß Deutschland diesmal eine besiegte Nation ist. Ich will sie nicht Hungers sterben lassen, aber wenn sie zum Beispiel mehr zum Essen brauchen, als sie haben, um Leib und Seele zusammenzuhalten, so sollten sie dreimal täglich Suppe aus Heeresküchen fassen. Das wird sie vollkommen gesund erhalten, und sie werden an diese Erfahrung ihr Leben lang denken." Margret Boveri notierte am 24. Juni 1945: "Schon allein die Befriedigung, mit der täglich die Amerikaner am Radio feststellen, daß im Winter in Deutschland die Hungersnot herrschen werde und daß die Amerikaner nichts dagegen tun werden."

Der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman (Deutscher Herbst '46, 1947) beobachtete: "Man geniert sich, und es wird als Schande empfunden, vollkommen hilflos zu dieser Suppenausgabe zu kommen." Dagerman glaubte an einen Irrtum, denn die Einkehr, die man von den Deutschen forderte, werde dadurch doch verhindert. "Hunger ist ja eine Form der Unzurechnungsfähigkeit." Genau dieser Zustand sollte herbeigeführt werden als Voraussetzung für alles weitere! "Warum sollen wir euch Deutschen helfen, im Laufe von drei Jahren wieder auf die Beine zu kommen, wenn das genausogut dreißig Jahre dauern kann?" zitiert er einen englischen Offizier. Es ging gar nicht um Hilfe, sondern um die Erlaubnis, den Hamburger Hauptbahnhof zu reparieren. Deutschland werde als "'kranker Mann' (behandelt), der dringend Spritzen mit antinazistischem Serum braucht", so Dagerman. Diese "Patiententheorie" setze eine "mystische Einheit" voraus, die gar nicht existiere. Dagerman blickte scharf, ohne zu verstehen, weil er von humanitären Voraussetzungen ausging. Die "Heilbehandlung", die er beobachtete, erinnert an die alten Behandlungsmethoden für Irre, die Foucault zitiert. Bevor der Kranke beruhigt werde, müsse das Leiden mit der Strenge einer moralischen Notwendigkeit durchexerziert werden. Aus einem Lehrbuch von 1835: "Wendet keinen Trost an, denn er ist unnütz. Greift nicht zu Überlegungen, denn sie überzeugen nicht. (...) Viel Kaltblütigkeit, und, wenn es notwendig ist, Strenge. Eure Vernunft soll ihr Verhaltensmaßstab werden. Eine einzige Saite vibriert noch bei ihnen: die des Schmerzes. Seid mutig genug, sie anzurühren." (Wahnsinn und Gesellschaft)

Sie wurde angerührt! Der Schmerz wurde Lehrmeister und zum Stigma, senkte sich ein in Körper und Seele, wurde erblich. Das Anrennen, müßte Gehlen präzisiert werden, ist ein Wegrennen vor der Wahrheit über sich selbst, desgleichen die Bußrituale. Deutschland ist also keine gelöschte, dann neu beschriebene Computerplatte, sondern es gleicht der Katze, der man eine Tüte mit Erbsen an den Schwanz gebunden hat und die sich, erschrocken über das unentrinnbare Geräusch, in Panik zu Tode hetzt.

Foto: Ruine der St. Petri-Kirche in Lübeck nach britischem Bombenangriff vom 28. März 1942: Die Zerstörung der "rückständig-bösen" Verbindung zum Mittelalter als Teil der "Heilsbehandlung"


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