© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
EU-Stiefkind Volksgruppenrecht
Andreas Mölzer

Die jüngste Welle von Bombenanschlägen in der Türkei hat die Diskriminierung der kurdischen Minderheit durch Ankara wieder ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt. Denn die türkische Regierung, die um jeden Preis der EU beitreten will, verweigert ihrer zahlenmäßig stärksten Minderheit seit eh und je grundlegende Rechte. Daran konnten auch die wenigen Verbesserungen im Vorfeld der Aufnahme von Beitrittsgesprächen nur sehr wenig ändern.

Aber auch in der EU, die so gerne eine "Wertegemeinschaft" sein will, führt der Schutz autochthoner Minderheiten in manchen Mitgliedstaaten ein Schattendasein. Frankreich kennt amtlich keine Minderheiten, deren Sprachen werden als "lokale Dialekte" bezeichnet. In Slowenien, wo die menschen- und völkerrechtswidrigen Avnoj-Beschlüsse immer noch einen Bestandteil der Rechtsordnung bilden, ist selbst die Anbringung privater zweisprachiger Tafeln verboten. Dagegen schützt Österreich die slowenische Minderheit in Südkärnten europaweit mustergültig. Neben großzügigen Förderungen garantiert ein wohlausgebautes Kindergartennetz und Schulsystem bis hin zu einem slowenischen Gymnasium in Klagenfurt den Bestand dieser Minderheit, die mit rund 12.500 Angehörigen gerade einmal 2,4 Prozent der Bevölkerung Kärntens stellt.

Von den osteuropäischen Staaten sind Ungarn und Rumänien in Sachen Minderheitenschutz positiv hervorzuheben. Um Fünfkirchen (Pécs), das Zentrum der ungarndeutschen Minderheit, sind zweisprachige topographische Bezeichnungen genauso eine Selbstverständlichkeit wie in anderen Landesteilen, etwa um Ödenburg (Sopron). Darüber hinaus gibt es Orte mit einer ungarndeutschen Selbstverwaltung. In Rumänien stellen inzwischen Politiker des Demokratischen Forums der Deutschen (DFDR) in acht Städten den Bürgermeister. Bekanntestes Beispiel ist Klaus Johannis, der 2004 mit fast 90 Prozent wiedergewählt wurde, obwohl die Siebenbürger Sachsen heute nur knapp zwei Prozent der Einwohner von Hermannstadt (Sibiu/Nagyszeben) stellen.

Dieser kurze Überblick zeigt die Notwendigkeit eines europäischen Volksgruppenrechts. Zwar gibt es das Kopenhagener Dokument vom 29. Juni 1990, das ganz allgemein Verpflichtungen zum Schutz nationaler Minderheiten enthält, sowie als weitere völkerrechtliche Grundsatzregelungen das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen.

Des weiteren enthält die Sprachencharta Standards zum Schutz von Minderheitensprachen in den Bereichen Schule, Medien, öffentliche Verwaltung, Kultur und Wirtschaft. Auch wenn diese völkerrechtlichen Regelungen durch die Ratifizierung in den jeweiligen Staaten Rechtsverbindlichkeit erlangen, werden die Bestimmungen in den verschiedenen EU-Staaten dennoch sehr unterschiedlich angewendet.

Während Brüssel nicht müde wird, alle möglichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten an sich zu reißen, verweist die Kommission in Sachen Minderheitenschutz auf das Nichteinmischungsprinzip. Will Europa seine historisch gewachsene, ethnische Vielfalt bewahren, dann ist die Ausarbeitung eines völkerrechtlich verbindlichen europäischen Volksgruppenrechts unumgänglich.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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