© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Eine Schule des Sehens
Auf Schloß Gottorf kann man Rembrandt mit der Lupe entdecken
Wolfgang Müller

Mit seiner Eintrittskarte erhält der Besucher der Schleswiger Ausstellung "Rembrandt entdecken" eine Lupe ausgehändigt. Die darf er behalten, als ein Geschenk des Mäzens und Brillenmoguls Günther Fielmann, der dem Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum auf Schloß Gottorf 30.000 Stück spendierte. Ein überaus nützliches Utensil, wie sich gleich beim Betreten der drei großen Säle erweist, in denen "die hundert schönsten Radierungen" des Meisters präsentiert werden. Zwar ist keines der Blätter so winzig wie jene im Nolde-Museum, drüben in Nordfriesland, aber mit unbewaffnetem Auge sind die Details gerade auf den Landschaftsradierungen schwerlich auszumachen.

Mit den zur Zeit laufenden imperialen Berliner Schauen zu Ehren von Rembrandts 400. Geburtstag (JF 37/06) kann und will sich Gottorf natürlich nicht messen. Freilich kommt hier einiges zusammen, was die Hauptstädter nicht zu bieten haben - zuvörderst die unvergleichliche Einbettung in die norddeutsche Ebene, mit der sommerlich blinkenden "Tochter der Ostsee", der Schlei in Sichtweite.

Der Besucher ist also gleichsam im Herkunftsraum Rembrandts. Nur eine halbe Autostunde entfernt darf er den Eindruck verstärken, wenn er sich in Friedrichstadt, einer Gründung holländischer Mennoniten, auf eine Grachtenfahrt begibt. Und der architektonische Rahmen des Gottorfer Barockschlosses mitsamt dem neuen Globus-Haus stimmt vielleicht auch eher in die Welt des 17. Jahrhunderts ein als die Kriegsbrache des Berliner Kulturforums.

Nicht zu vergessen schließlich, daß hier im schleswig-holsteinischen Grenzland die Mystifizierung und weltanschauliche Beschlagnahme des Künstlers ihren Ursprung hat. Julius Langbehn, der Erfinder des "Rembrandtdeutschen", der Symbolfigur der antimodernen "deutschen Ideologie" um 1900, stammt aus dem nordschleswigschen, heute dänischen Hadersleben. Und mit Carl Neumann saß seit 1904 ein Mann auf dem Kieler kunsthistorischen Lehrstuhl, dessen mächtige Rembrandt-Biographie die Langbehnsche Deutung des nordisch-deutschen, christlich-idealistischen Künstlers, des Antipoden der westlich-materialistischen Welt und des Propheten der "Wiedergeburt von innen" akademisch nobilitierte.

Doch so ideal die "hundert Radierungen" zum landschaftlichen Rahmen wie zu den ideenhistorischen Reminiszenzen passen - die Ausstellungsmacher setzten bei ihrer Konzeption eher auf "Voraussetzungslosigkeit". Nicht zufällig hängen die Exponate so tief, daß auch Kinder sie betrachten können. Die neben jeder Radierung zu lesenden Beschreibungen verzichten auf kunsthistorische Terminologie, wenden sich an "kunstunerfahrene Menschen". Die Komposition ist daher denkbar übersichtlich: Porträts, biblische Motive, Landschaften. Fast alle Blätter stammen aus dem Bestand der Hamburger Kunsthalle, wurden in exakt diesem Umfang und in dieser Zusammensetzung 1986 an der Alster gezeigt. Gottorf bietet damit eine Reprise, aber auch dies ist dem Vorhaben nur dienlich, an der Schlei für einige Wochen eine "Schule des Sehens" zu unterhalten.

Folgerichtig verzichtet der mit vorzüglichen Reproduktionen aufwartende Katalog auf weltanschauliche Handreichungen. Dem "Phänomen Rembrandt" will sich Museumsleiter Herwig Guratzsch nur noch fragend, fern der "alten Legenden" nähern: Worin liegt die Laien wie Kenner gleichermaßen in den Bann ziehende Kraft dieses Malers? Die ausführliche Einleitung des lange in Nijmegen lehrenden Rembrandt-Forschers Christian Tümpel, international einer der besten Kenner des Œuvres, ist der gleichen Deutungsaskese verpflichtet. Die Technik der Radierung wird erläutert, Rembrandts einzigartige Meisterschaft in diesem Metier vornehmlich unter handwerklichen Aspekten beleuchtet, seine bevorzugten Sujets phänomenologisch erfaßt - Interpretationen bleiben dem Betrachter überlassen.

Für die kleine Schau wird kein separater Einlaß gewährt. Es ist also der übliche Eintritt von sechs Euro zu entrichten. Das wäre relativ teuer, wenn man nicht die Gelegenheit nutzte, sich anzuschauen, was Gottorf über Rembrandt hinaus zu bieten hat. Niemand sollte sich dabei den Weg in die einstigen Stallungen ersparen, wo jetzt die Klassiker der Moderne zu sehen sind. Nolde natürlich, Beckmann und Kirchner, im "Lichtgeschmeide" (Theodor Däubler) eines sonnendurchfluteten Seitengangs, Ernst Barlachs Bronzen, auf dem Weg zu Fussmann, Janssen, Wunderlich, die Werkstatt von Hans Wimmer, mit den Porträtbüsten von Martin Heidegger, Ernst Jünger und, von verstörender Präsenz, Wilhelm Furtwängler.

Die Ausstellung "Rembrandt entdecken. Die hundert schönsten Radierungen" ist bis zum 8. Oktober in der Galerie des 19. Jahrhunderts auf Schloß Gottorf in Schleswig täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der von H. Guratzsch herausgegebene Katalog ist im Wienand Verlag, Köln, erschienen, hat 228 Seiten und kostet 34 Euro ( in der Ausstellung 25 Euro).

Foto: Rembrandt, Die Windmühle (Radierung 1641): Unvergleichliche Einbettung in die norddeutsche Ebene


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