© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Ein Bohemismus hatte nie eine Chance
Die Prozesse kultureller Integration und Desintegration in Böhmen im 19. Jahrhundert liefen auf den späteren deutsch-tschechischen Gegensatz hinaus
Ekkehard Schultz

Das 19. Jahrhundert spielt in der Geschichte Böhmens und Mährens und der dort lebenden Völker eine Schlüsselrolle. War dieses Zeitalter zu Beginn noch weitestgehend durch ein friedliches Neben- und Miteinander von Deutschen, Tschechen und Juden geprägt, führten die sich verstärkenden Nationalbewegungen in Mitteleuropa zu einem schnell wachsenden Konfliktpotential. An seinem Ende steht der schwere Nationalitätenstreit unter den Ministerpräsidenten Eduard Graf Taaffe und Kasimir Felix Graf Badeni.

War dieser Prozeß unvermeidbar? Oder hätten alternative Konzepte wie die Ausprägung eines gemeinsamen böhmischen Nationalgefühls für Deutsche und Tschechen - der sogenannte Bohemismus - eine Chance gehabt? Antworten verspricht der aktuelle Sammelband "Prozesse kultureller Integration und Desintegration - Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert" des in München ansässigen Collegium Carolinum.

Der Band enthält in leicht überarbeiteter Form Aufsätze einer Tagung vom 21. bis 23. März 2002 an der Universität Jena. Die ersten Texte liefern einführendes Material auf dem neuesten Forschungsstand. Herauszuheben ist dabei Václav Maidls "Landespatriotismus. Nationalitätenwechsler und sprachlich-nationale Divergenz", in dem die realen Möglichkeiten zur "Brüderlichkeit und Vereinigung beider Nationalitäten" untersucht werden. Welche Probleme es schon zu Beginn der sechziger Jahre an der in einem Teil der Literatur immer noch idyllisierten Peripherie gab, eine Gleichstellung und Gleichberechtigung von "Böhmen slawischer Zunge" und "Böhmen deutscher Zunge" zu erreichen, zeigt das Beispiel des zweisprachigen Boten aus dem Böhmerwald, der sich als Vermittler zwischen Deutschen und Tschechen verstand. Doch der Versuch endete schnell: Der Bote mußte 1863 eingestellt werden und wurde durch ein rein tschechisches Blatt ersetzt. 1884 wurden schließlich sowohl ein deutscher als auch ein tschechischer Schutzbund für die Böhmerwaldregion gegründet. Damit hatten die Nationalitätenauseinandersetzungen auch diese Region erreicht. Daraus zieht Maidl das Fazit, daß "die sprachliche und die auf ihr basierende nationale Divergenz im 19. Jahrhundert" schließlich "unvermeidbar" war. Eine Abkoppelung von den nationalen Bewegungen in Europa und ihren Auswirkungen war letztlich selbst auf einem kleinen, bäuerlich geprägten Territorium nicht möglich.

Andere Aufsätze widmen sich der kulturellen Entwicklung im Spiegel der einsetzenden nationalen Konflikte. Ein Beispiel dafür bietet Dalbor Tureceks "Mehrsprachigkeit im tschechischen Drama". Vom 14. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auf tschechischen Bühnen regelmäßig Stük-ke tschechischer Autoren aufgeführt, in denen einige Figuren tschechisch und andere deutsch, weitere in Latein, sprachen. Eines der bekanntesten darunter ist Jan Nepomuk Stepaneks "Čech a Němec" (Der Tscheche und der Deutsche). Das Stück wurde 1816 ur- und bis 1854 insgesamt 52mal aufgeführt; kein anderes Stück hatte so viele Vorstellungen. Nationale Spannungen werden im Stück nicht thematisiert. Bei "Čech a Němec" handelt es sich um eine Kriminalgeschichte mit einer Liebesintrige. Damit unterscheidet sich "Čech a Němec" deutlich von Stücken wie "Čech a Rakušanka na kouzelném ostrove" (Der Tscheche und die Österreicherin auf der Zauberinsel") von 1837 oder etwa Josef Kajetáns Tyls "Fidlovacka", in dem gemeinsam von Figuren, die grundsätzlich deutsch oder tschechisch sprechen, die Protagonisten einer deutsch-tschechischen Mischsprache verspottet werden. Beide Stücke kamen wegen ihrer offenkundigeren Tendenz beim Publikum nicht an. Erst später wurde Tyls Stück durch das das darin enthaltene Lied "Kde domuv muj?" (Wo ist meine Heimat?) äußerst populär. Das Lied wurde schließlich von tschechisch-nationaler Seite als Kampflied eingesetzt.

Das Schicksal vieler Versuche, eine böhmisch-nationale Kultur zu entwikkeln, wird hiermit exemplarisch verdeutlicht. So überrascht ein Urteil des österreichischen Dichters Franz Grillparzer bereits in den dreißiger Jahren bei der Betrachtung einer "bohemistischen" Dichtung nicht: Sie "ist deutschen Mustern nachgeahmt, die darin herrschende Denk- und Sinnesweise ist deutsch, das Versmaß ein deutsches, ja die Sprache ist die deutsche; wo steckt da das böhmisch-nationale? Wegen des Stoffes? Da müßte Schillers 'Jungfrau von Orleans' auch ein französisches Werk sein."

So ist als Fazit des Bandes dem tschechischen Historiker Jan Kren zuzustimmen, der bereits vor zehn Jahren schrieb, daß sich "ein utraquistisches Modell" "nur im Rahmen einer relativ kleinen und exklusiven sozialen Gruppe als tragfähig" erwiesen habe. Während die Nationalbewegung die Massen emotionalisieren konnte, war dies den "böhmisch-nationalen" Bestrebungen nur zu einem kleinen Teil möglich. Dies reichte bei weitem nicht aus, um die bedauerlichen und problematischen Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts zu vermeiden.

Steffen Höhne, Andreas Ohme (Hrsg.): Prozesse kultureller Integration und Desintegration - Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. Oldenbourg Verlag, München 2005, gebunden, 340 Seiten, 49,80 Euro


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