© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/06 22. September 2006

Frisch gepresst

Hans Kelsen. Seit einem Vierteljahrhundert erfreut sich der Wiener Verfassungsrechtler Hans Kelsen (1881-1973) nicht zuletzt deswegen einer märchenhaften Aufmerksamkeit, weil ihm im simplen Geschichtsbild der Nachgeborenen die Rolle des Exponenten der rundherum "guten" Traditionen deutschen Staatsdenkens zugewiesen wurde. Als einer der ersten Demokratietheoretiker zu Zeiten der ersten österreichischen und der Weimarer Republik, als Antipode Carl Schmitts, als Emigrant und US-Präzeptor in Zeiten des Kalten Krieges vereint Kelsen in seiner Person alles, was man als Sympathieträger und Identifikationsikone spätwestdeutscher Verfassungspatrioten mitbringen muß. Dank dieser ideologischen Stimmigkeit ließ sich der beispiellose Rezeptionserfolg auch nicht durch die Unlesbarkeit vieler seiner von neukantianischer Begriffsakrobatik lädierten Bücher aufhalten. Die Resultate einer Frankfurter Tagung, die Stanley E. Paulson und Michael Stolleis herausgegeben haben (Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Mohr Siebeck, Tübingen 2005, 392 Seiten, broschiert, 69 Euro), dokumentieren die ungebrochene Bereitschaft, Kelsen bis in die hintersten Winkel seiner "Reinen Rechtslehre" zu folgen, belegen aber zugleich, daß damit kein Mehr an Verständlichkeit erreicht wird. Aus solchem Fachdiskurs heben sich daher nur die stärker historischen Beiträge heraus, etwa Martin Schultes Studie über Kelsens Part im Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre oder seine Kontroverse mit dem "Alpen-Marx" Max Adler darüber, was der Sozialismus wohl noch mit dem Staat anfangen könne.

 

Ludwig Ross. Obwohl das leicht griesgrämige Naturell Wilhelm Diltheys eine solche enthusi- astische Einschätzung gewagt erscheinen läßt, darf man ihm doch unterstellen, daß der "Erfinder" der "Geistesgeschichte" an dem biographischen Kraftakt von Ina Minner seine helle Freude gehabt hätte: "Ewig ein Fremder im fremden Lande. Ludwig Ross (1806-1859)", Bibliopolis Verlag, Möhnesee 2006, 436 Seiten, gebunden, Abbildungen, 42,20 Euro. Die Bochumer Wissenschaftshistorikerin, die mit ihrem Werk über einen der Väter der Klassischen Archäologie alle Anforderungen an eine "gewöhnliche" Doktorarbeit weit übertrifft, liefert mit einer akribischen, auf Kieler Nachlaßbestände gestützten intellektuellen Biographie und deren Einbettung in den politisch-weltanschaulichen Kontext von Biedermeier, Vormärz und "Reaktion" zugleich einen wichtigen Baustein zur Geschichte des deutschen bildungsbürgerlichen Neuhumanismus. Dessen "Idealität" wird im Werk von Ross, der sein Interesse auf die orientalischen Einflüsse in der griechischen, "mykenischen" Kultur richtet, bereits transzendiert. Eine so fundierte Monographie hat es dann gewiß nicht nötig, an den "Migrations"-Diskurs unserer Tage anzudocken und den langjährigen Griechenlandaufenthalt des Holsteiner Bauernsohnes und Hallenser Professors als den eines "Migranten in historischer Perspektive" zu betrachten.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen