© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/06 29. September 2006

Revolte gegen den Lügenpremier
Ungarn: Seit zwei Wochen protestieren aufgebrachte Bürger gegen Ferenc Gyurcsány und seine sozialistisch-linksliberale Regierung
Georg Pfeiffer

Seit am 17. September im ungarischen Rundfunk der Mitschnitt einer in Balatonőszöd vor der Sozialistenfraktion gehaltenen Rede von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány gesendet wurde, ist landesweit ein Sturm der Entrüstung entbrannt (JF 39/06). In den ersten beiden Nächten danach kam es zu Krawallen und der Besetzung eines Fernsehsenders.

Seither verlaufen die Demonstrationen zwar weitgehend friedlich und nehmen an Breite noch zu. Am Samstag demonstrierten vor dem Budapester Parlament etwa 50.000 Menschen und forderten den Rücktritt des Regierungschefs. Dabei war eine geplante Veranstaltung der größten Oppositionspartei Fidesz für diesen Tag abgesagt worden. Die Bürgerlichen senden Beschwichtigungssignale aus und versuchen dafür, bei den am 1. Oktober anstehenden Kommunalwahlen aus der Lage Kapital zu schlagen. Ex-Premier Viktor Orbán hält sich auffallend zurück.

Der 45jährige Ministerpräsident - vor 1989 Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes KISZ in Fünfkirchen (Pécs) und mittlerweile "Privatisierungsmillionär" - lehnt einen Rücktritt strikt ab. Seine Anhänger sowie die meisten in- und ausländischen Medien verteidigen den wirtschaftsliberalen "Reformer" Gyurcsány mit dem erstaunlichen Argument, daß Politiker ohnehin lügen, dieser sich aber jetzt "ehrlich gemacht" habe und das Land aufrütteln wolle. Dieses Argument klänge überzeugender, wenn sich Gyurcsány an das Volk und nicht nur an Parteikader gewandt hätte.

Andererseits bestätigen viele Demonstranten und auch Nichtdemonstranten aus verschiedenen politischen Lagern, daß der "rechte" Fidesz mit Wahlversprechen kaum zurückhaltender gewesen sei als die regierende MSZP. Angesichts der unzweideutigen Bekenntnisse des Ministerpräsidenten ("Wir haben gelogen - morgens, mittags und abends") stellt sich daher nicht nur die Frage nach der Legitimation seiner Regierung, sondern nach der der führenden Parteien und Politiker überhaupt.

Auch deshalb schwenken viele Demonstranten - nicht nur Anhänger der Rechtspartei MIÉP - die rot-weiß-gestreiften Árpád-Fahnen. Árpád war ein Großfürst in der Zeit der ungarischen Landnahme im 9. Jahrhundert und Begründer der ersten ungarischen Herrscherdynastie. Allerdings verwandten auch die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler, die ab Oktober 1944 bis Kriegsende die Regierung führten, diese Farbkombination. Sie weckt nicht nur beim linksliberalen Budapester Bürgermeister Gábor Demszky, sondern bei vielen Ungarn Assoziationen zu deren militantem Antisemitismus.

Unter dem Pfeilkreuzler-Premier Ferenc Szálasi beteiligte sich die ungarische Regierung nicht nur aktiv an der Massendeportation von Juden, sondern Pfeilkreuzler ermordeten auch selbst Zehntausende Juden. Wegen dieser Mehrdeutigkeit der Árpád-Fahne bleiben viele den Protesten fern, obwohl sie mit dem Anliegen sympathisieren.

Bei den Demonstranten - darunter auch Anarchisten und Globalisierungsgegner - finden sich ganz uneinheitliche Vorstellungen über die weiteren Ziele. Manche wollen eine Nationalversammlung einberufen und mit dem Staatsaufbau noch einmal von vorn beginnen. Andere befürworten eine Übergangsregierung aus unabhängigen Experten mit einem eingeschränkten Mandat.

So ist keineswegs ausgemacht, ob die Opposition bei den Kommunalwahlen am 1. Oktober haushoch gewinnt. Der Fidesz ist von den Bekenntnissen des politischen Gegners mitkompromittiert. Zudem machen die EU und ausländische Finanzinstitutionen und Investoren Druck auf die Regierung, den defizitären Haushalt durch radikale soziale Einschnitte zu sanieren. Daß der sozial-konservative Fidesz einen anderen Weg kennt, hat er nicht wirklich plausibel machen können.

Foto: Bürgerprotest vor Budapester Parlament: Ganz unterschiedliche Vorstellungen über die weiteren Ziele


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