© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/06 29. September 2006

Der Druck auf die reichen Länder steigt
Weltbevölkerungsbericht: Die Uno sieht in der weltweiten Migration mehr Chancen als Risiken
Peter Lattas

Etwa 191 Millionen Menschen leben derzeit weltweit außerhalb ihres Heimatlandes - dreißig bis vierzig Millionen Illegale nicht mitgerechnet. Der Weltbevölkerungsbericht 2006 der Uno hat alarmierende Daten zusammengetragen und diese positiv eingefärbt, um daraus lobbypolitische Forderungen abzuleiten. Dafür hat man beim UN-Bevölkerungsfonds (Unfpa) und der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) tief in die multikulturalistische Mottenkiste gegriffen und handfeste Widersprüche nicht gescheut.

Unverdrossen pries denn auch Generalsekretär Kofi Annan auf der globalen Uno-Migrationskonferenz in New York, die auf der Grundlage des Unfpa-Berichts stattfand, die allseitigen "Chancen" der Migration. Diese bringe allen nur Vorteile, sekundierte die sozialdemokratische finnische Arbeitsministerin Tarja Filatov im Namen der EU: den Herkunfts- wie den Aufnahmeländern und den Einwanderern selbst.

Soviel Migration war nie. Zwar konstatiert der Bericht zunächst einen Rückgang: Von 1975 bis 1990 habe man noch 41 Millionen Wanderer weltweit gezählt, in den darauffolgenden 15 Jahren waren es nur noch 36 Millionen. Hauptgrund ist der Rückgang der Flüchtlingszahlen: Die derzeit 12,7 Millionen Flüchtlinge stellen nur noch sieben Prozent aller Migranten, Anfang der Neunziger lag die Quote noch bei elf Prozent.

Migration nimmt also vor allem in Entwicklungsländern ab, wo 90 Prozent aller Flüchtlinge leben. In entwickelten Ländern nimmt die vornehmlich ökonomisch motivierte Immigration dagegen zu: 33 von 36 Millionen sind seit 1990 in ein Industrieland ausgewandert; ein Viertel aller Wanderer dieser Welt lebt in Nordamerika, ein Drittel in Europa. Der Migrationsdruck auf diese Regionen steigt: Während in Europa bis 2025 laut Uno die Einwohnerzahl um 21 Millionen, die der Erwerbsfähigen sogar um 42 Millionen schrumpfen wird, erwartet den Nahen Osten eine Bevölkerungszunahme um ein Drittel, von 207 auf 274 Millionen; Nordafrika wird um 35 Millionen wachsen.

Die Rezeptvorschläge des Berichts entstammen freilich eher einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Nicht die Steuerung von Einwanderung, sondern "der Schutz der Menschenrechte von Migranten" müsse im Mittelpunkt stehen. Die Regierungen sollten "Migration weniger gefährlich und gerechter" gestalten, also dem Migrationsdruck nachgeben und Schranken für legale Einwanderung abbauen. Damit hofft man auch den Schleusern und Schleppern das Wasser abzugraben, die jährlich rund 40 Milliarden Dollar umsetzen. Außerdem müsse man die Armut als Hauptursache für Migration "in den Herkunftsländern bekämpfen".

Daß man damit nicht nur den Migrationsdruck verstärkt, sondern auch die fatalen Folgen für die Herkunftsländer, ist nur einer der offensichtlichen Widersprüche. Zutreffend wird berichtet, daß Arbeitsmigration keineswegs eine Sache der Ärmsten der Armen ist; vielmehr gehen vor allem die am besten Ausgebildeten, Risikobereiten und Beweglichsten, die moderne Informationsquellen beherrschen und auch das notwendige Kapital für die Reise auftreiben können.

Zu Hause fehlen diese Menschen dann bitter. Drastisch dokumentiert der Bericht den "brain drain" im Medizinwesen, der die ehrgeizigen Entwicklungsprogramme bedroht: 20.000 Krankenschwestern, Hebammen und Ärzte verlassen jährlich Afrika; allein in Manchester wirken mehr malawische Ärzte als in ganz Malawi mit seinen elf Millionen Einwohnern. 85 Prozent der philippinischen Krankenschwestern arbeiten im Ausland.

Kann dem anders als mit den verpön-ten Zugangsbeschränkungen begegnet werden? Der angestrebte "optimal brain drain", von dem auch die Herkunftsländer profitieren sollen, bleibt vage. Der von Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vorgeschlagene freiwillige Anwerbeverzicht klingt zumindest naiv. Und bis die philippinische Krankenschwester zu Hause statt 146 dann 500 US-Dollar im Monat wie in den Golfstaaten oder gar 3.000 wie in den nahen USA verdient, müßten wohl Entwicklungshilfebudgets jenseits jeder Vorstellungskraft investiert werden.

Das derzeitige Volumen der Entwicklungshilfe wird laut Bericht von den Überweisungen Ausgewanderter in die Entwicklungsländer - 167 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr - weit übertroffen. Das sei ein enormer Entwicklungsbeitrag, schaffe aber auch neue Abhängigkeiten - was freilich auch für die geforderte Armutsbekämpfung an der Wurzel gilt.

Negative Folgen der Migration für die Aufnahmeländer werden nur noch flüchtig schöngeredet: Einwanderer seien keine Arbeitsplatzkonkurrenten, weil sie meist Jobs machten, die Einheimische nicht wollten; betroffen seien vor allem Geringqualifizierte, die ohnehin zu den Globalisierungsverlierern gehörten, heißt es leicht zynisch. Eine höhere Belastung der Sozialsysteme wird unter Hinweis auf eine einzelne, kaum auf europäische Verhältnisse übertragbare US-Studie schlicht geleugnet; und auch die von der Bevölkerungswissenschaft längst widerlegte Mär von der demographischen Stabilisierung wird wieder aufgewärmt.

Wer sich mit solchen Allgemeinplätzen begnügt, mag auch glauben, Einwanderung sei - freilich nur bei "richtigem Management", nämlich wenn "der Beitrag von Frauen und Jugendlichen maximiert" werde - eine "win-win"-Situation. Hier kommt der "Weltbevölkerungsbericht" zur lobbypolitischen Sache: Da die Hälfte der Wanderer wie der Flüchtlinge Frauen seien, müßten die auch besonders geschützt und gefördert werden. Zum Beispiel durch stärkere Einbeziehung wichtiger "Migrantenorganisationen und Gewerkschaften", die sich "der Geschlechtergleichberechtigung verpflichtet" fühlten. Auch bei der Unterstützung von Entwicklungsländern müßten diese Themen in den Vordergrund gerückt werden. Damit dürften zumindest die wahren Migrationsgewinner feststehen.

Der aktuelle Report des Uno-Bevölkerungsfonds im Internet: www.unfpa.org/swp/2006/pdf/en_sowp06.pdf 


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