© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Eine besiegte Population unter Laborbedingungen
Die Neuauflage der "Amerikafibel für erwachsene Deutsche" von Margret Boveri, die die Motivationen der Umerziehung erklärte
Doris Neujahr

Für die vom sowjetmarxistischen Aktionsplan wie von amerikanischer "Charakterwäsche" bedrohten Kriegsverlierer unternahm 1946 die bekannte Journalistin Margret Boveri (1900-1975), die Tochter eines Deutschen und einer Amerikanerin, mit der "Amerikafibel für erwachsene Deutsche" den "Versuch, Unverstandenes zu erklären". Ihr Thema grenzte sie auf den Fragebogen-Komplex ein.

Eine Fibel ist ursprünglich ein Kinderbuch, das "bei dem Einfachen, dem Schaubaren, dem Greifbaren" beginnt und zur "Besitznahme des Gedachten, des Vorgestellten" hinüberführt. So hat es Theodor Heuss in seiner positiven, am 20. August 1946 in der Rhein-Neckar-Zeitung erschienenen Rezension ausgedrückt. So gewiß dieses Konzept dem Publikum entgegenkam, es war auch ein Mittel der Camouflage. Die spielerische, manchmal fast naiv anmutende Erzählweise ermöglichte Boveri eine kritische Auseinandersetzung mit der Besatzungsmacht, die unter den Bedingungen der Militärzensur anders nicht möglich war.

Boveri hatte 1940/41 als Auslandskorrespondentin der Frankfurter Zeitung in den USA gearbeitet. Für sie waren die Amerikaner nicht einfach entfernte europäische Verwandte, sondern eine neue Spezies. Die Schroffheit, mit der sie bis zum Schluß im Lande verbliebene Deutsche mit ihrer "Schuld" konfrontierten, war aus dem US-Selbstverständnis heraus die natürlichste Sache der Welt. Denn die USA hatten sich als eine Einwanderernation konstituiert, wo der Exilant, "der Pilgrim", den Gründungsmythos personifiziert und per se etwas Positives darstellt. Aus dieser Perspektive war das Verharren in "Hitler-Deutschland" etwas Unamerikanisches und damit Schlechtes.

Rigoroser Moralismus stieß auf gläubigen Etatismus

Zweitens ist das Verhältnis des Amerikaners zum Staat von dem des Europäers unterschieden. Während in der Alten Welt der Einzelne seit Jahrhunderten in den Staat hineingeboren wurde und sich erst im Laufe der Zeit seine Bürgerfreiheit gegen die Institutionen und die Aristokratie erkämpfte, war in den USA zuerst der Bürger da, der sich den Staat gemäß seinen Ansprüchen und Überzeugungen gründete. Das Bewußtsein, als bürgerliches Individuum ursprünglicher zu sein als der Staat, wirkt bis in die Gegenwart nach und äußert sich als prinzipielles Mißtrauen gegenüber den Institutionen. Auch deshalb war die Loyalität der Deutschen im Dritten Reich für die Amerikaner unverständlich. Weil deren Menschenrechtserklärung aus dem geschichtslosen Zustand der Emigration entsprang, kommt die "Bill of rights" im Empfinden der Amerikaner aus dem "Herzen der Natur" und wird daher als eine Botschaft an die gesamte Welt betrachtet. Hier wurzelt der universalistische Anspruch der USA, die sich sich als Heimat einer Weltmission begreifen.

Allerdings findet auch die Freiheit des Amerikaners ihre Grenzen, zunächst in seiner religiösen Gemeinde als Urzelle der Einwanderergesellschaft, später im Imperativ der öffentlichen Meinung. Sie ist, so Boveri, durch eine Moral geprägt, deren Rigorosität ebenfalls im Ursprungsmythos wurzelt. In Europa exi-stierte von alters her ein Gitterwerk von Ver- und Geboten, von Gesetzen, formellen und informellen Regeln, die man verinnerlicht hatte und befolgte, ohne viel darüber zu reflektieren. In den USA aber, in der unorganisierten Weite des Kontinents, mußte der Einzelne, um nicht selber zügellos zu werden, sich seiner Moral immer wieder selbstverantwortlich vergewissern. 1945 mußten die Deutschen, die der Verschiebung des öffentlichen Regelwerks keinen hinreichenden Widerstand geleistet hatten, den Amerikanern fast durchweg als verderbt erscheinen. Inzwischen hat der permanente Prozeß moralischen Bekennens in der Political Correctness eine institutionalisierte Form gefunden. Boveri weist auf die Unfähigkeit hin, eigene Prinzipien zu den konkreten Gegebenheiten in anderen Ländern in Beziehung zu setzen. Die Naivität, mit der die USA sich anschickten, den Irak mit der Demokratie zu beglücken, bestätigt die andauernde Gültigkeit der Feststellung.

Woher aber kommt die bei der Vielfalt der Einwohner erstaunliche innere Kompaktheit der USA? Die Einwanderer durchlaufen laut Boveri einen "Einschmelzungsprozeß". Je niedriger ihre sozialen Vorausetzungen sind, umso größer ist der Druck, ihrer Herkunft weitestgehend abzuschwören. Was als Gewaltakt erscheint, bedeutet auch die Befreiung von historischer Last, und als Lohn winkt das Glücksversprechen sozialen Aufstiegs. Das führt zu einer Atmosphäre der Offenheit und Dynamik, hat aber auch seinen Preis, der mit dem Verlust an Vielfalt, Tradition, Formen und Individualität gezahlt wird. Boveri verweist darauf, daß die US-Soldaten Falten in den Gesichtern hätten, "aber es ist eine andere Geographie der Falten als bei uns, - etwa die typisch amerikanischen Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln: Falten des vielen Lachens, aber auch der Härte und Rücksichtslosigkeit, Falten des Erfolgs und des Jugendlich-Seins."

Der Umschmelzungsprozeß wird gefördert von Statistiken und Umfragen, die in die Medien und damit in die öffentliche Meinung eingespeist werden, wo sie eine suggestive und erzieherische Wirkung entfalten. Man denkt unwillkürlich an die von Elisabeth Noelle-Neumann beschriebene "Schweigespirale". Dem liege die Auffassung zugrunde, daß man die menschliche Persönlichkeit nach rationalen Gesichtspunkten zerlegen und in optimierter Form wieder zusammenbauen könne.

USA als Laboratorium einer idealtypischen Moderne

Boveri beschrieb das anhand des Lochkartenprinzips der damals populären Hollerith-Maschinen, die Angaben über persönliche Daten und Gewohnheiten erfaßten und die Grundlage dafür lieferten,Verhaltensweisen zu beeinflussen, indem man sie positiv oder negativ sanktionierte. Der strikt standardisierten Waren- entspricht also auch die formierte Menschenwelt. Die Standardisierungsidee lag auch dem in Deutschland eingeführten "Fragebogen" zugrunde. Der Wunsch nach synthetisierten Menschen mag verrückt erscheinen, denn das Interessanteste, Privateste, die unendlich vielen Unwägbarkeiten des Lebens entziehen sich der Statistik. Doch darauf kommt es nicht an, wenn man eine Population unter Laborbedingungen zur Verfügung hat. Wenn man Ausschließungsgründe souverän praktizieren kann, dann mag auch eine Umformung gelingen. Auch das war nicht böse gemeint. Die USA erscheinen bei Boveri als Laboratorium einer idealtypischen Moderne, in der, mit Marx zu sprechen, die nivellierende Kraft des Kapitalismus sich nicht erst, wie in Europa, mit der Zerstörung feudaler Bande und geheiligter Traditionen abgeben mußte, sondern unvermittelt ans Werk gehen konnte.

Margret Boveri schrieb, wie gesagt, ihr Buch unter alliierter Militärzensur und mußte sich eine entsprechende Zurückhaltung auferlegen. Sie konnte aber bei ihrem Publikum auf die im Dritten Reich erprobte Fähigkeit des Zwischen-den-Zeilen-Lesens vertrauen. Sie hat verschiedentlich von ihrer 1940/41in den USA gewonnenen Überzeugung berichtet, daß US-Präsident Roosevelt sein Land auf jeden Fall in den Krieg gegen Deutschland führen wollte. Sie war mit Hans Heinrich Dieckhoff, dem ehemaligen deutschen Botschafter in den USA, bekannt, der dann in Spanien amtierte und die Publizistin gern an die Madrider Botschaft gebunden hätte. Dieckhoff hatte 1942 eine fundierte Analyse der deutsch-amerikanischen Beziehungen veröffentlicht, die Boveri zweifellos geteilt hat und die in ihre "Amerikafibel" eingeflossen ist. Sie konnte bei vielen ihrer Leser die Kenntnis von Giselher Wirsings voluminöser Studie "Der maßlose Kontinent" oder Sven Hedins "Amerika im Kampf der Kontinente" voraussetzen, zwei schneidend scharfe Abrechnungen mit den globalen Ambitionen der USA. Sie selber war am 7. Dezember 1941 unmittelbar nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor als "feindliche Ausländerin" verhaftet worden - obwohl Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch neutral war und die Kriegserklärung erst vier Tage später erfolgte. Wenn sie in einer Fußnote zum "Shooting war" (Schießkrieg) vermerkt, dieser "von Roseveelt geprägte Begriff" tue "sehr richtig dar, daß Krieg auch schon war, bevor geschossen wurde", erinnert sie ihre Leser an viele US-Provokationen gegen das Reich und daran, daß die Darstellung, Hitler habe die USA angegriffen, die hi-storischen Tatsachen konterkariert.Und wenn sie Lincolns religiöser Rhetorik während des Sezessionskriegs das selbstherrliche Vorgehen der "Yankees" in den Südstaaten gegenüberstellt, dann ist das als Kommentar zur Freiheitsrhetorik Roosevelts zu werten, der Hitler schon zu einem Zeitpunkt als Menschheitsfeind ausgemacht hatte, als dessen Opferzahl, einschließlich die der Röhm-Affäre, noch im vierstelligen Bereich lag, während Stalin schon Millionen auf dem Gewissen hatte, was den Präsidenten nicht hinderte, in ihm den kommenden Bündnispartner wider das Böse zu sehen.

Die "Amerikafibel" ist kein antiamerikanisches Buch. Boveri beschreibt die Fähigkeit zur Selbstdisziplin, zum Distanzhalten, zur Flexibilität, zu einem besonderen Understatement und - zur Güte, die sich während der Berlin-Blokkade 1948/49 im hingebungsvollen Einsatz tausender GIs für die bedrohte Stadt bestätigen sollte. Boveris Betrachtungsweise ist deutschzentriert und kann daher nur relative Gültigkeit beanspruchen. Man denke nur daran, daß der slawophile Dostojewski im "Spieler" die Deutschen als verklemmte Spießer auftreten läßt. Vieles von dem, was Boveri "amerikanisch" nennt, ist längst Teil unserer eigenen Wirklichkeit geworden, und auch die USA sind alles andere als statisch.

Eine Bestandsaufnahme der eigenen Verluste

Waren wir alle also schon immer Amerikaner? Das dann doch nicht! Als den signifikantesten Unterschied stellt Boveri das Verhältnis zu den Dingen heraus. Für die US-Amerikaner sind sie austauschbare Gebrauchsgegenstände, und daher verwandeln sie ohne Scheu "das bewohnteste und persönlichste unserer Häuser in einen Klub, wo immer alle Türen offenstehen." Dagegen ergreift sie Partei für die abendländische Denk- und Lebensweise. Sie zitiert Spengler, für den echter Besitz erst durch seelische Durchdringung der Dinge erreicht war, und Rilke, der gegen Ende seines Lebens feststellte, daß "von Amerika leere gleichgültige Dinge" herüberdringen. "Ein Haus im amerikanischen Verstande hat nichts gemeinsam mit dem Haus in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen sind." Das Verschwinden dieser "mitwissenden Dinge", die "nicht mehr ersetzt werden" könnten (Rilke), war durch die Kriegszerstörungen dramatisch beschleunigt worden. Aber, so Boveri, dafür habe Rilke die Regenerationskraft der "werttragenden Dinge" unterschätzt. Es liege an den Deutschen, die Verantwortung für sie wahrzunehmen und dadurch in der Begegnung mit den Amerikanern einen "sicheren Standpunkt" einzunehmen.

Wie wenig diese Hoffnung sich erfüllt hat, zeigt das Vorwort Heike B. Görtemakers, die in solchen Sätzen nur Zeichen der Verbitterung und des unerlaubten Versuchs sieht, "die eigene deutsche kulturelle Identität zu beschwören - allen Greueln der nationalsozialistischen Diktatur zum Trotz". Görtemaker hat eine Dissertation über Boveri verfaßt (JF 35/05). Sie weiß viel, funktioniert aber wie eine Hollerith-Maschine und personifiziert damit jene geistig-kulturelle Verarmung, die für Margret Boveri ein Alptraum war. So lesen wir die Neuauflage des Buches sechzig Jahre nach seinem Erscheinen nicht nur als eine Amerika-Kritik, sondern auch als Bestandsaufnahme der eigenen Verluste.

Margret Boveri: Amerikafibel für erwachsene Deutsche. Ein Versuch, Unverstandenes zu erklären. Landtverlaga, Berlin 2006, gebunden, 251 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Baseball-Einweisung von US-Besatzern: Zerlegen und in optimierter Form wieder zusammenbauen


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