© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Dämon mit Computer
Kalendergeschichten: Botho Strauß wandelt auf den Spuren von Johann Peter Hebel
Günter Zehm

Wer über das neue Buch von Botho Strauß sprechen will, der muß zunächst über Johann Peter Hebel aus dem Schwarzwald sprechen, den "alemannischen Vergil", der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, mitten in der Klassiker- und Romantikerzeit, seine ganz und gar eigenen, hoch originellen Wege ging. Hebel war Volkserzieher, Gymnasialdirektor und Konsistorialrat, und als solcher verfaßte er alljährlich sogenannte Kalendergeschichten für den "Rheinischen Hausfreund", ein periodisches Erbauungs- und Unterhaltungsbüchlein für Jung und Alt, Hoch und Niedrig, Gebildet und Wenigergebildet. Hebels Kalendergeschichten waren so gut, daß sie alle seine übrigen Werke überstrahlten und Weltruhm für ihn heranholten.

Rein äußerlich gesehen waren es volkstümliche, populäre Schwänke und Anekdoten, untermischt mit Anleitungen für den praktischen Haushalt, oft im Märchenton erzählt und mit einer handfesten "Moral" am Ende, die auf Gottesfürchtigkeit und bürgerlichen Anstand hinauslief. Wahrhaftig nichts Besonderes, sollte man meinen. Und Hebels Stil war ganz schlicht, jeder konnte ihn mühelos verstehen. Aber in der wahren Schlichtheit wohnt der Dämon der Tiefe.

Hebels Kalendergeschichten entzückten und verzauberten nicht nur alemannische Handwerksburschen und niederrheinische Flußschiffer, sondern faktisch das ganze lesende Publikum in Deutschland und bald auch in Frankreich, Skandinavien und anderswo. Weimarer Dichterfürsten wie Berliner Romantikerinnen waren gleichermaßen angetan. Sofort nach Erscheinen des jeweils neuesten "Hausfreunds" las Ludwig Tieck im Salon der Madam Herz daraus vor - und rührte alle zu Tränen. Es war ein wahrer Hexenton, den Hebel gefunden hatte. Legionen von Germanisten haben sich inzwischen um adäquate Auslegung bemüht, vergeblich. Das Geheimnis ist auch heute noch nicht gelüftet, und man darf daran zweifeln, ob es je gelüftet werden wird.

Auch Botho Strauß legt jetzt "Kalendergeschichten" vor, und zwar ausdrücklich und eingestandenermaßen in der Spur Johann Peter Hebels. Und es ist - wie schon die Lektüre der ersten und titelgebenden Geschichte, "Mikado", erweist - beileibe keine bloße Finger-übung, kein lächelnder Talentbeweis ("So etwas kann ich auch"), sondern Strauß schreibt gewissermaßen mit vollem Einsatz und mit dem Anspruch, voll ernst genommen zu werden. Auch er möchte das verehrliche Publikum in allen seinen modernen Schichten unterhalten, moralisieren, nachdenklich stimmen. Auch er möchte verzaubern. Die Ambition ist gewaltig.

Ob sie eingelöst wird, läßt sich natürlich noch nicht entscheiden. Festhalten kann man immerhin schon jetzt: Hier wird nicht mit der Wurst nach der Speckseite geschmissen, hier macht sich keiner gewaltsam populär, um eventuell mit der Bild-Zeitungsprosa zu konkurrieren. Dem medialen Affen wird nirgendwo Zucker gegeben. Jede der einundvierzig kurzen bis sehr kurzen Geschichten transportiert zwar eine "unerhörte Zeitung", aber richtig fernsehtauglich sind nur wenige von ihnen.

"Mikado", die Eingangserzählung, ist insofern untypisch. Es geht da um einen Fabrikanten, dem während eines Messebesuchs von Gangstern die Ehefrau entführt wird. Man fordert Lösegeld, das Lösegeld wird bezahlt, und die Frau kehrt zurück. Doch es ist nicht die "richtige" Ehefrau, es ist eine völlig andere, völlig fremde Frau, die aber so tut, als sei sie die "richtige". Das ist selbstverständlich ein Fall, über den sich die sogenannte Öffentlichkeit wochenlang das Maul zerreißen würde.

Typischer für den Rest der Geschichten ist eine andere, die kürzeste des Bandes, im Grunde nur eine Zeitungsmeldung: Ein Mann erwürgt seine Frau, weil sie ihn betrogen hat. Crime passionnel. Der Betrug liegt jedoch schon über zwanzig Jahre zurück, der Mann hat ihn zufällig entdeckt, als er den Nachlaß eines Freundes, den er geerbt hat, sichtete. Offenbar hatte seine Frau seitdem nie wieder Ehebruch begangen, und sie hatten liebevoll zusammengelebt. Aber "er konnte den Gedanken an seine Arglosigkeit nicht ertragen ... Sein Mangel an Argwohn brachte ihn nachträglich zur Raserei. Nicht die, die ihn vermutlich betrogen hatte, wollte er töten, sondern jene einzige Zeugin seiner erbärmlichen Arglosigkeit."

Solche verqueren Lebenslügen und ihre schließliche Enthüllung bilden den Inhalt vieler der Straußschen "Kalendergeschichten". Die handelnden Personen sind keine Handwerker, Fischer oder kleinen Diebe mehr wie bei Hebel, sondern Lagerverwalter, Datei-Betreuer, "Mitarbeiter" jeglicher Art, Angehörige sogenannter "Kreativ-Teams", Leute, die alle irgendwie mit dem Computer zu tun haben. Viele von ihnen surfen eifrig im Internet, machen sich dort wichtig, beteiligen sich an irgendwelchen "Blogs", um ihrer zähen Einsamkeit zu entgehen und Anerkennung zu erlangen.

Eine besonders rührende Geschichte handelt von einem geschiedenem Mann, dessen Ex-Frau, wie heute üblich, ohne weiteres das Kind zugesprochen bekommt. "Sie hatte sich die Freiheit genommen, einfach begierig nach Neuem zu sein. Wurde ihr deshalb die freie Verfügung über das Kind zugesprochen? Und ihm nur ein paar Besuchszeiten, wie in einem Gefängnis. Verbunden jetzt mit einer langen Reise. Ja, man hatte nur ihn bestraft. Wofür? Weil er seine Familie treu und zuverlässig liebte? Gesetze, die dieses schreiende Unrecht dulden, sind selbst ein Verbrechen."

Straußens "Kalendergeschichten", ob sie nun an Hebel heranreichen oder nicht, sind alle interessant, hautnah aktuell wie einst der "Rheinische Hausfreund", und sie haben alle, ebenfalls wie im "Hausfreund", einen gut ausgedachten oder herausgearbeiteten "Plot", eine Pointe, die manchmal magisches Format erreicht. In drei, vier Fällen findet auch "der Einbruch des Unbegreiflichen" statt (man nehme etwa das Stücklein "Die Zahlen"), irrationale, fast wunderhaltige Ereignisse erhellen urplötzlich wie ein Blitz den modernen Alltag, und die Computer- und Internetwelten leuchten momentweise wie Grimmsche Märchen.

Ob das reicht, um dem Band generell zu Märchentiefe (und das heißt hier also: zu wahrhaft dämonischer Erzähltiefe) zu verhelfen, ob eines der Stücke je die Erschütterung auslösen wird, die einst bei Hebel Stücke wie "Kannitverstan" oder "Unverhofftes Wiedersehen" ausgelöst haben - man muß es, wie gesagt, der Zukunft überlassen. Es fehlt dem Buch vielleicht etwas die Spontaneität und heitere Selbstverständlichkeit, die Hebels Kalendergeschichten so auszeichnen. Alles scheint bei Strauß bis zum letzten Komma kalkuliert und zurechtgeschliffen. Es ist zu wenig Naturbelassenheit in dem Buch.

Trotzdem nimmt man es gern zur Hand und ist schnell fasziniert. Man kann gut darin blättern und sich seine jeweilige Geschichte aussuchen. Enttäuscht wird man von keiner.

Botho Strauß: Mikado. Hanser Verlag, München 2006, gebunden, 175 Seiten, 17,80 Euro

Foto: Botho Strauß: Wunderhaltige Ereignisse erhellen urplötzlich den modernen Alltag, und die Internetwelten leuchten wie Grimmsche Märchen


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