© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Gott, Staat, Masse
Theater: Frank Castorf inszeniert Wagners "Meistersinger"
Harald Harzheim

Bislang war Christoph Schlingensief für den Wagner-Kult an der Berliner Volksbühne zuständig. Jetzt hat Intendant Frank Castorf, keineswegs ein Wagner-Fan, sich höchstselbst an die "Meistersinger von Nürnberg" getraut. Nach der Mai-Premiere in Luxemburg sind sie jetzt auch an der Volksbühne zu sehen. Als Ausstatter gewann er den bildenden Star-Künstler Jonathan Meese, der voriges Jahr eine "Parsifal"-Perfomance zelebrierte und Wagner als "Gott" verehrt.

Meese stellt zunächst vier antike Säulen auf die Bühne - ein Deko-Klassiker der griechischen Tragödie, auf die Wagners Konzept vom "Gesamtkunstwerk" sich beruft. Dahinter findet sich aber kein Nürnberg. Die Inszenierung heißt nämlich nur noch "Meistersinger" und spielt in einer höhlenartigen Fantasystadt, einem archaischen Trash-Mittelalter.

Der Bühnenchor ist klassisch proletarisch gekleidet und singt zur Musik eines geschrumpften Orchesters. Nur noch zwei Klaviere und ein Bläserquintett bringen die Partitur zum Klingen, während das Ensemble - bis auf wenige Ausnahmen - aus Schauspielern besteht, die den Text eher deklamieren als singen. Nicht zu Unrecht, denn Wagners Musikdramen sind - das antike Vorbild läßt wieder grüßen - ein Spagat zwischen Gesang und Deklamation. Normale Opernaufführungen verbiegen diesen Gesangszwitter zum aalglatten Belcanto. Dirigent Christoph Keller wollte dagegen "von der anderen Seite, der textdeklamatorischen" herangehen.

Daß der Chor der werktätigen Volksbühne einer Piscator-Inszenierung entlaufen scheint, ist Bestandteil von Castorfs Montage-Konzeption. Darin mixt er Passagen aus dem "Meistersinger"- Libretto mit Szenen aus Ernst Tollers expressionistischem Drama "Masse-Mensch". Wagners artifizielle Musikwelt und Tollers pathetischer Sozialismus prallen aufeinander, beißen sich aber nicht. Im Gegenteil: Beider Thema ist die Masse, der Chor. Für Wagner als Zeuge einer Kunstrevolution, für Toller Subjekt einer sozialen Revolte.

Castorfs "Meistersinger" ist eine Reflexion über Ästhetik und Masse. Wagner, der von einer "neuen Kunst" träumte, ließ sein Anliegen in den "Meistersingern" von dem jugendlichen Avantgardisten Walther von Stolzing vertreten. Aber welche Begriffe wären heutzutage sinnloser und überholter als die von "Revolution" und "Avantgarde"? Castorf läßt Stolzing (Christoph Homber) als alten, fetten Superman auftreten, während sein Kontrahent Beckmesser (Max Hopp) nicht nur physiognomisch ansehnlicher ist. Die Regie hat ihn maximal rehabilitiert. So kriegt er Sätze aus Tollers Drama in den Mund gelegt, in denen "die Masse" als Opfer, als "zerstampftes Volk" erkennt wird. Nein, Beckmesser ist hier kein lachhafter Pedant, sondern dank dieser Passagen fast ein ernstzunehmender, konservativer Kulturkritiker.

"Gott, Staat, Masse waren Moloch", schrieb Toller. Wagner hielt dem die Utopie vom freien Volk entgegen. An die glaubt Castorf freilich nicht mehr. Für ihn ist das Musikdrama historisch maximal belastet. "Die Meistersinger waren nicht umsonst der I-Punkt auf dem nationalsozialistischen Gesamtkunstwerk 1933", erklärte der Regisseur in einem Interview. Ergo läßt er parallel zu Stolzings Liedern Maschinengewehre aus dem Zweiten Weltkrieg knattern. Oder den Schlußgesang "Ehrt eure deutschen Meister" in verdreckten, blutverschmierten Bademänteln singen. Die Frage, ob der Antisemitismus des Komponisten auch in dessen Werk vertreten sei, wird ironisch mit Ja beantwortet: indem man Passagen aus Wagners Spät-essay "Heldentum und Christentum" ins Libretto montiert.

Castorf reflektiert, ein wenig einseitig und darin keineswegs originell, Wagners deutsche Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Darin ist der ausgleichende Hans Sachs (Bernhard Schütz), der einst konservative Meisterschaft und ästhetische Revolution zur Volksutopie synthetisierte, freilich ein schlapper Verlierer. Nie hat man ihn so tolpatschig gesehen. Als ästhetische Autorität abgesetzt, versucht er in einer Szene mit den Subventionsgeldern der Volksbühne die Bühne zu verlassen. Trübe Aussichten? Nicht ganz.

Mitten in dem selbstgenügsamen Spiel resignativer Ironie öffnen die von Meese ins Bühnenbild geschmierten Graffiti obskure Assoziationsfelder. Namen wie "Dr. Masse", "Richardo de Krakenhai Wahnkindaddy", "Heinrich 8" liest man da. Zuletzt tritt der Künstler persönlich auf, greift sich eine Orchestermusikerin und entführt sie mit den Worten: "Komm mit mir ins Erzland, zu Saint Just, in die totale Tyrannei, zu Käpt'n Ahab, zu Ezra Pound, zu Stalin ..." Meese ist primär ein Sprachkünstler, voller Ironie und elektrisierender Faszination für düstere Namen. Er kreiert ein Dämonen-Pantheon, in dem Wagner schon lange einen festen Platz hat. Durch dieses Spiel mit der Dämonie, das auch Faszination zuläßt, erreicht Meese einen befreienden Exorzismus, der dem müden Castorf nicht gelungen ist.

Die nächsten Aufführungen in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstraße 227, finden statt am 14., 15., 22. und 29. Oktober. Info: 030 / 240 65-5

Foto: Castorfs "Maeistersinger"


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