© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Die zerstobene Welt
Walter Kempowski beschreibt anhand des Dramas der Flucht aus Ostpreußen eine gesellschaftliche Apokalypse
Thorsten Hinz

Dieser Roman soll Walter Kempowskis letzter sein. Zwei Gründe sind es wohl, weshalb der gebürtige Mecklenburger ihn in Ostpreußen spielen läßt: Am 26. April 1945 ist dort sein Vater gefallen, ihm und den vielen anderen Namenlosen setzt er ein symbolisches Denkmal. Auch muß es dem großen Beschwörer des deutschen Imperfekts nahegehen, daß der Provinz stellvertretend für ganz Deutschland ein Schicksal von exemplarischer Grausamkeit widerfuhr. "Mutter Ostpreußen! Einsame, am Brückenkopf / Abseits den Schwestern, den sicher geborgenen, wohnend ...", so dichtete Agnes Miegel vor kaum mehr als siebzig Jahren: Verse aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt.

Januar 1945. Noch steht die Ostfront, denn die Rote Armee, bevor sie den finalen Schlag führt, bringt sich erst gründlich in Stellung. Wer es nicht wissen will, der muß fühlen, daß er in einer angehaltenen, gestundeten Zeit lebt, die sich jeden Augenblick wild in Bewegung setzen kann. So auch die Bewohner des Georgenhofs östlich von Elbing. Der Besitzer Eberhard von Globig ist bei der Wehrmacht, die Restfamilie nährt sich von Gerüchten und der Hoffnung, es würde irgendein Wunder eintreten - ein Wunder, das sich der nüchternen Überlegung entzieht. Denn die Schlußfolgerungen, die der Frontverlauf, die vorbeiziehenden Flüchtlingstrecks und die auftrumpfende Schadenfreude der Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen nahelegen, sind eindeutig. Aber was wäre die Alternative zur falschen Hoffnung? Doch wohl, vor Angst verrückt zu werden!

Was im Rückblick Geschichte heißt, besteht im Moment ihres Vollzugs aus Leiden, Irrtümern, Furcht und Trotz, aus harter Arbeit und stets aus Millionen Einzelgeschichten. Kempowski, der Menschenkenner, dekonstruiert die Klischees, die guten wie die schlechten, die über die Menschen im Dritten Reich im Umlauf sind, mit ironischer Verve und entwirft vor düsterem Hintergrund eine furiose Menschliche Komödie. Da ist die schöne Katharina von Globig, die Herrin von Georgenhof, die sich in ihren Zimmern (ihrem "Refugium") vor der Welt und sogar vor den nächsten Angehörigen verriegelt. Sie versenkt sich in Bücher, lauscht der BBC und den Wehrmachtsberichten und betäubt ihre Furcht mit Tabletten und Alkohol. Sie erklärt sich bereit, einen Verfolgten eine Nacht lang zu verstecken, aber nicht aus Widerstandsgeist, sondern weil sie ihrem Pfarrer nicht zu widersprechen wagt und weil sie hofft, es möge sich um einen jungen, feschen Offizier handeln, denn ihre Ehe existiert nur noch pro forma. Sie ist enttäuscht, als ein abgerissener Jude vor ihr steht, von dem sich die "arische" Ehefrau unter Verwünschungen getrennt hat: Was Wunder, daß er die Menschen generell verachtet, und zwar so sehr, daß er die primitivsten Regeln der Konspiration ignoriert und die Gestapo auf die Spur seiner Helfer lenkt.

Die Leitung des Hofes liegt in den Händen des buckligen "Tantchens", das hier seit 20 Jahren, seitdem das Familiengut in Schlesien zwangsversteigert wurde, ihr Gnadenbrot erhält. Bevor sie auf der Flucht von einer Bombe zerrissen wird, macht sie sich noch Sorgen, ob ihre Verwandtschaft wohl Versicherungsmarken für sie geklebt hat. Als Katharina verhaftet wird, fordert sie ihr boshaft die Hausschlüssel ab, die sie nun doch nicht mehr brauche. Sie ist jetzt selber Herrin auf Georgenhof - für einen Tag. Katharinas zwölfjähriger Sohn Peter, ein Einzelgänger, beschäftigt sich am liebsten mit Mikroskop und Fernglas, aber weder der Nah- noch der Fernblick eröffnet der kindlichen Ahnung die Dimension des Kommenden.

Gegenüber wohnt der Dorfnazi Drygalski. Die Weltwirtschaftskrise hatte ihn in bitterste Armut gestürzt, die NSDAP zog ihn aus dem Sumpf, und er erweist ihr seine Dankbarkeit, indem er die Globigs ausspioniert. Vielleicht wäre er nachsichtiger, wenn sie sich weniger hochmütig benehmen würden. Im übrigen organisiert er mit Umsicht und Energie die Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge. Auf ihn trifft der Satz Andreas Hillgrubers zu, der Jürgen Habermas im Historikerstreit so in Wut versetzt hatte: "Von den Hoheitsträgern der NSDAP bewährten sich manche in der Not von letzter, verzweifelter Verteidigung, von Zusammenbruch und Flucht."

Und die zur Truppenbetreuung abgestellte Geigerin Gisela Glitzen rechnet sich aus, daß der Kriegstod so vieler Männer ihre Karrierechancen erhöht. Auf Georgenhof schaufelt sie Bratkartoffel und Blutwurst in sich hinein, doch andernorts, um an die Freigiebigkeit der neuen Gastgeber zu appellieren, wird sie verbreiten, man hätte sie dort hungern lassen. Ein Pfarrer nimmt sich vor, dieses Beispiel menschlichen Geizes später als Thema für eine moralische Erbauungspredigt zu verwenden. Diese Geschichte würde die letzte sein, die berichtet wird über den Georgenhof, wenn er gebrandschatzt ist und seine Bewohner tot sind. Auch die "oral history" ist eine unsichere Sache ...

Der polnische Fremdarbeiter Wladimir, dem das Tantchen blindes Vertrauen schenkt, macht sich während des Trecks mit dem Pferdegespann und der schwangeren ukrainischen Braut auf und davon. Wer will es ihnen verdenken, daß sie nach jahrelanger Schufterei für fremde Leute keine Skrupel haben, sich deren Silber, Möbel, Stoffe und Lebensmittelvorräte anzueignen? Doch auch sie werden vom Malstrom des großen Sterbens erfaßt und als Plünderer aufgeknüpft. Ein Baron, "der Eduard mit Vornamen hieß" (wie der Edelmann aus den "Wahlverwandschaften"), schleppt einen schweren Manuskriptkoffer voller Urkunden, Akten und Notizen zur Geschichte seiner Heimatstadt mit sich. Der Koffer geht verloren und mit ihm die letzten Überbleibsel einer ganzen Lebenswelt. Alle Mühe war umsonst.

Kempowski hat einen Roman über den Zweiten Krieg, Flucht und Vertreibung geschrieben, aber es geht um viel mehr. Das Buch handelt paradigmatisch davon, wie eine Welt endet und wie Menschen sich in dieser Situation verhalten. Hier wird nicht nur etwas zerstört, denn vom Zerstörten bleiben stets noch Ruinen und Fundamente bestehen und die Baupläne, nach denen man sie wieder zusammenfügen kann, und die Menschen und das Beziehungsgeflecht, das zwischen ihnen geknüpft ist. Das zusammen verbürgt eine Kontinuität, die über materielle und moralische Zertrümmerungen hinüberreicht und die Chance einer Heilung eröffnet.

Was dagegen Kempowski zeigt, ist ein Zermalmen und Pulverisieren, die Vollstreckung eines geschichtlichen Todesurteils. Sogar ein Neugeborenes verheißt keinen Neuanfang mehr. Die Freundin Katharinas, Felicitas ("die Glückliche") stirbt kurz nach der Geburt zusammen mit ihrem Kind auf der Flucht. Nur Peter hat die Chance zu überleben, zumindest körperlich. Er sieht noch die Erschießung russischer Kriegsgefangener durch SS-Männer an, die geschäftsmäßig, ohne sadistische Regung, aus der unausweichlichen Logik des eskalierten Krieges erfolgt: "So ist das nun einmal. 'Was meinst du, wie die sich aufführen, wenn man sie auf die deutschen Frauen losläßt!' sagen sie zu Peter." Drygalski, der Nazi, tritt ihm seinen Platz auf dem letzten und - vielleicht - rettenden Schiff gen Westen ab.

Kempowskis meisterhafter Roman steckt voller menschlicher und geschichtlicher Weisheit. Man wagt nicht auszubuchstabieren, wieviel von unserer eigenen Gegenwart und Zukunft darin enthalten ist. Wer ihm jetzt noch den Büchnerpreis verweigert, beleidigt nicht seine Person, sondern die deutsche Literatur.

Walter Kempowski: Alles umsonst. Knaus Verlag, München 2006, gebunden, 381 Seiten, 21,95 Euro


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