© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Wider alle Auflösungserscheinungen
Günter Rohrmoser sieht in den Leitgedanken des Konservativismus Rezepte aus dem gegenwärtigen Jammertal
Harald Seubert

Günter Rohrmoser begreift in seinem neuen Buch Geschichte als Gegenwart: Daher spitzt sich das Gespräch mit exemplarischen konservativen Denkern, von denen heute zu lernen ist und die sich dem Härtetest der Moderne aussetzten, auf die Grundfrage zu, ob eine einmal erreichte gesellschaftliche und kulturelle Dekadenz noch aufzuhalten ist.

Der zeitgenössische Horizont von Rohrmosers Untersuchungen wird einleitend knapp und eindeutig skizziert: im Blick auf die die Wahrnehmung der einfachsten Realitäten verstellende Political Correctness, in einer tiefgründigen Analyse des "Kampfs der Kulturen" und in einem kenntnisreichen Einblick in die geschichtlichen Prägungen des gegenwärtigen amerikanischen Konservativismus. Eine schöne Würdigung des "Modernitätstraditionalismus" von Rohrmosers maßgeblichem philosophischen Lehrer Joachim Ritter verweist auf die Notwendigkeit einer Bejahung der krisenhaften Moderne - die ihre geistigen Ressourcen nicht aus sich selbst schöpfen kann, sondern aus Geschichte, Kunst, Religion und der alteuropäischen Überlieferung gewinnen muß - als auf eine Magna Charta heutigen Konservativismus.

Im einzelnen erörtert Rohrmoser Donoso Cortés und Alexis de Tocqueville als maßgebliche konservative Denker des 19. Jahrhunderts und aus dem 20. Jahrhundert Carl Schmitt und Arnold Gehlen. Am Denken des von Carl Schmitt hoch geschätzten Cortés kann exemplarisch die anti-modernistische Tendenz eines römisch-katholisch geprägten Konservativismus herausgearbeitet werden. Tocqueville ist ein konservativer Denker von ganz anderem Zuschnitt: Der französische Edelmann ist ein Besiegter der Französischen Revolution. Die eigene und seines Standes Niederlage bewegen ihn dazu, die Zeichen der durch einen Umbruch von Grund auf veränderten Zeit auf das genaueste zu studieren. Deshalb sucht er die demokratische Herrschaftsform dort auf, wo sie bereits in dem am weitesten fortgeschrittenen Aggregatzustand der damaligen Welt zu beobachten ist, in Amerika.

Tocqueville erkennt, daß die, nach seiner Einsicht sich unaufhaltsam ausbreitende Demokratie unter einem ständigen Gefährdungsdruck von zwei Seiten steht: Sie droht zwischen Kollektivismus und Individualismus zerrieben zu werden, Freiheit und Gleichheit liegen in Spannung und Widerstreit. Rohrmoser arbeitet als tiefsten Antrieb Tocquevilles die Versöhnung von Christentum und Demokratie heraus. Dahinter steht die entscheidende Erkenntnis, daß die Demokratie selbst keine inhaltliche, sinngebende Orientierung hat. Dies bestätigt sich im 20. Jahrhundert an dem unheimlichen Befund, daß alle totalitären oder zumindest autoritären Regime für sich beanspruchen, Demokratien zu sein.

Obgleich der Typus des Antimodernisten (Cortés) und jener des Denkers, der das Prinzip der Moderne zu begreifen und aus christlichem Geist seine Defizite auszugleichen versucht (Tocqueville), im 20. Jahrhundert wiederkehren, sieht sich konservatives Denken im Totalitarismus dem drohenden Ende alteuropäischer Tradition ausgesetzt und steht damit in einer verschärften Konstellation.

Es ist Carl Schmitt, dem Rohrmoser in diesem Zusammenhang eine großartige Deutung widmet. Sie macht den eigentlichen Höhepunkt des Buches aus. Rohrmoser kann dabei aus intensiven Gesprächen schöpfen, die er während der sechziger und siebziger Jahre mit Schmitt in Plettenberg führte. Er legt in kongenialer Weise Kern und Mitte des Denkens von Carl Schmitt frei, die noch immer von sekundär Strittigem, insbesondere aber von Schmitts Verhalten im Jahr 1933, überlagert werden.

Diese esoterische Mitte findet Rohrmoser in der christlichen Figur des Katechon, des Aufhalters des Antichrist (2. Thess 2,6). Schmitt maß dem Staat deshalb eine so große Bedeutung zu, er war "Etatist", weil der Staat seiner Auffassung nach die Stelle des Katechon einnehmen kann, dessen Rolle das Mittelalter im christlichen Kaisertum und im Reich verwirklicht gesehen hatte. Wenn das Zeitalter klassischer Staatlichkeit zu Ende ist (und dies ist Schmitt zufolge im 20. Jahrhundert unübersehbar), dann werden die Potentiale des Antichrist entfesselt.

Entscheidend für Rohrmoser ist, daß sich von Schmitt lernen läßt, wie Geschichte in christlichen Maßstäben und Kategorien zu denken ist. Rohrmoser zeigt, im Unterschied zum Hauptfeld der Schmitt-Forschung, doch mit vollem Recht den engen Zusammenhang, der bei Schmitt zwischen theologisch begründetem und staatstheoretisch-politischem Denken besteht. Durch seine Interpretation rückt Carl Schmitt wieder in das geistige Feld, aus dem er erst angemessen zu verstehen ist: in die Nähe zu Luther und zu Hegel.

Arnold Gehlens Denkansatz wird knapp, aber sehr erhellend behandelt, wobei Rohrmoser auch Gehlens transzendentalphilosophischen Anfängen die gebührende Aufmerksamkeit zuwendet. Rohrmoser verschweigt nicht, daß Gehlen in seinen frühen Jahren weitgehende, wenn auch letztlich erfolglose Schritte in Richtung auf den Nationalsozialismus tat. Entscheidend für die Interpretation von Gehlens späterer Anthropologie ist die Einsicht, daß der Mensch nur als Kulturwesen existieren kann. Die Entstehung von Institutionen erklärt Gehlen im Rückgang auf die archaischen Agrargesellschaften nicht als Ergebnis rational zweckhaften, sondern rituell mimetischen Handelns. Im Blick auf die Moderne konstatiert Gehlen die Abhängigkeit des Menschen von dem Apparat der Industriegesellschaft und damit einen statischen Finalzustand von Politik und das Ende der Geschichte; dieser Folgerung schließt sich Rohrmoser zu Recht nicht an.

Es ist eine große Leistung, wie es Rohrmoser bei jedem der behandelten Denker des Konservativismus gelingt, in das Zentrum und die philosophische Mitte der Denkansätze einzudringen und in ihrem Licht Grundprobleme der Gegenwart zu interpretieren. Rohrmoser zeigt, wie eindrucksvoll die Hinterlassenschaft konservativen Denkens ist, gerade auch in seiner prognostischen Kraft. Vor allem aber wird deutlich, daß wir der politischen und geistigen Krise der Gegenwart nur geschichtlich, nicht in blindem Pragmatismus oder in Sozialtechnologien standhalten können.

Deshalb hat man allen Grund - gerade auch politische Entscheidungsträger hätten ihn -, Rohrmosers philosophische Einsichten über Europa und den Islam, Zuwanderungsbewegung, Institutionenzerfall, die Perzeptionsverweigerung, die von der Political correctness ausgeht, sehr genau zur Kenntnis zu nehmen.

Rohrmoser ist, wie die Einleitung des neuen Buches zeigt, der wohlbegründeten und von ihm seit langen Jahren mit Verve vertretenen Überzeugung, daß die großen Revolutionen und Umbrüche sich heute als Transformationen auf geistig kulturellem Feld abspielen und daß längst die Religion in ihrem Fokus steht. In diesem Buch, das durch Klarheit, Kenntnisreichtum und eine Fülle von neuen Einsichten glänzt, erweist sich Rohrmoser erneut in einer Person als konservativer Philosoph von europäischem Format, als eminent politischer Geist, deutscher Patriot aus besten Traditionen und couragierter Verteidiger des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Er hat eine Schneise in zum Teil sich verwirrende, im Sekundären versandende Konservativismus-Debatten geschlagen. Daher muß man dieses Buch lesen, ihm ist größte Verbreitung und Rezeption in Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit zu wünschen.

 

Prof. Dr. Harald Seubert lehrt Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Günter Rohrmoser: Konservatives Denken im Kontext der Moderne. Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim 2006, gebunden, 325 Seiten, 22,75 Euro

Fotos: Matthäus Merian der Ältere (1593-1650), "Vom Weltgericht", kolorierter Kupferstich, 1625/27: Dem Jüngsten Gericht geht der Antichrist voraus. Der Katechon bekämpft ihn, obwohl sein Auftreten Gottes Wille ist - eine typische Paradoxie konservativen Denkens, Günter Rohrmoser: Bejahung der krisenhaften Moderne


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