© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/06 06. Oktober 2006

Parforce-Ritt durch die Diktaturen
Gerhard Besier, Direktor des Dredner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, hat sich an einem Standardwerk versucht
Dag Krienen

Eine "neue Geschichte des 20. Jahrhunderts", wie im Untertitel versprochen, legen Gerhard Besier und Katarzyna Stokłosa nicht vor. Es geht ihnen vielmehr "nur" um die bislang meist in ihrer Gesamtheit wenig beachtete Geschichte autoritären und totalitären diktatorischen Regime rechter und linker Herkunft, die im 20. Jahrhundert zeitweise das Gesicht des Kontinents weitaus stärker prägten als der angebliche Normalweg zur liberalen Demokratie.

Zunächst zu den Verdiensten des Buches: Seinen Lesern deutlich vor Augen zu führen, daß der Weg der europäischen Staaten in die Moderne in sehr vielen Fällen zunächst auch ein Weg in die Diktatur war, ist schon für sich eine nicht zu unterschätzende Leistung. Das 880 Seiten starke Werk bietet eine umfassende Übersicht über alle linken und rechten europäischen Diktaturen vor und nach 1945 (nur das Regime Lukaschenkos im heutigen Weißrußland fehlt) und stellt deshalb ein recht brauchbares Handbuch zum "Europa der Diktatoren" dar. Die sehr umfangreichen, auf aktuellstem Stand befindlichen Literaturangaben für jedes einzelne Land und jede Epochen stellen ein weiteres Plus dar.

Weitergehende Erwartungen darf man an das Buch jedoch nicht richten. Seine historisch-deskriptiven Kapitel, die 95 Prozent des Inhalts ausmachen, bestehen im wesentlichen aus kompiliertem historischem Handbuchwissen, solide, aber ohne großen analytischen Tiefgang und offensichtlich unter Zeitdruck zusammengestellt. Dafür sind wohl auch institutionelle Zwänge verantwortlich. Gerhard Besier, der sich zuvor einen Namen als Kirchenhistoriker gemacht hatte, ist im Sommer 2003 zum Professor für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden und zum Direktor des dortigen Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) berufen worden (JF 8/03 und JF 19/03), einer der wenigen akademischen Einrichtungen in Deutschland, in denen nicht nur Forschungen zu rechten, sondern auch zu linken Diktaturen betrieben werden. Wenige Monate nach seiner Ernennung machte er den Fehler, die Scientologen öffentlich als Vorkämpfer für religiösen Pluralismus zu würdigen (JF 40 und 41/03), und wurde prompt zum Ziel einer linke Kampagne, die ihn zu dem Zugeständnis nötigte, fürderhin nicht mehr über religiöse Minoritäten zu forschen.

Seine neue Stellung zwang Besier zudem offensichtlich dazu, sich auch außerhalb seines bisherigen Arbeitsfeldes profilieren. Anfang 2006 veröffentlichte er zusammen mit Gerhard Lindemann ein 400seitiges Buch über die "angloamerikanischen Freiheitsvorstellungen von 1607 bis 2005" (Im Namen der Freiheit. Die amerikanische Mission, Göttingen 2006), um nun, nur neun Monate später, als Kontrastgemälde auf 880 Seiten die diktatorische Staatspraxis im Europa des 20. Jahrhunderts Revue passieren zu lassen. Aber auch wenn sich Besier in seinem neusten Buch auf die Ergebnisse eines Forschungsprojektes des HAIT und die Hilfe seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Stokłosa (die bislang vor allem über die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen nach 1945 geforscht hat) stützen konnte, war die Zeit objektiv viel zu knapp, um ein wirklich substantielles Standardwerk zur europäischen Diktaturgeschichte zu erarbeiten.

Dieser Anspruch lag dem Buch anfänglich wohl gar nicht zugrunde, auch wenn sein Umfang diesen Eindruck erweckt. Das Schlußkapitel "Politische Religion - Totalitarismus - Moderne Diktatur" deutet an, daß es Besier ursprünglich vor allem darauf ankam, sich auch als Diktaturen-Forscher Sporen zu verdienen. In diesem Kapitel referiert und bewertet er zunächst verschiedene Varianten der Totalitarismustheorie und des Konzepts der "politischen Religion", um schließlich für eine "produktive Synthese der verschiedenen Ansätze" als theoretische Grundlage der vergleichenden Diktaturenforschung zu plädieren. Dafür biete sich die Weiterentwicklung des ursprünglich von Siegmund Neumann entwickelten Konzepts der "Modernen Diktatur" an, das es gestatte, den Totalitarismusbegriff weiterhin als deskriptive Kategorie zur formalen Einordnung von Herrschaftssystemen (in Unterscheidung von bloß "autoritären" Regimen) zu nutzen, zugleich aber über die Rezeption von Elementen des Konzeptes der "säkularisierten" Politischen Religion zu erklären, warum diktatorische Herrschaftsformen zeitweise "auch und gerade unter den Bedingungen der Moderne eine höhere Faszination besaßen als die Freiheit". Besier modifiziert zu diesem Zweck ohne großen theoretischen Anspruch die von Wolfgang Merkel entwickelte Typologie politischer Regime zu einem eingestandenermaßen nur "sehr groben Raster" weiter, um am Ende des Buches eine entsprechende Übersichtstabelle über die Regierungsformen der europäischen Staaten zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufzustellen.

Alle vorangehenden Kapitel des Buches werden damit zum historischen Material-Steinbruch degradiert, um diese abschließende Tabelle auf Seite 700 rechtfertigen zu können. Zwar ist das Eingehen auf die historische Entwicklung jedes einzelnen Landes dem von Besier favorisierten vergleichenden Ansatz immanent. Nur leider verlangt dieser Ansatz an sich eine tiefgehende analytische Betrachtung der einzelnen Ländergeschichten und eine ebenso weitreichende Strukturanalyse der etablierten Regime, die auf der Basis von historischem Handbuchwissen einfach nicht zu leisten ist. Das ist keine Frage der wissenschaftlichen Kompetenz des Autors und seiner Mitarbeiterin, sondern eine der zur Verfügung stehenden Zeit. Anders ausgedrückt: Das abschließende Kapitel des Buches wäre besser zunächst nur als kleiner Beitrag zur Forschungsdebatte in einer Fachzeitschrift erschienen. Das Buch als empirischer Nachweis der darin aufgestellten Thesen hätte hingegen einiger Jahre mehr an gründlicher Forschung bedurft, um wirklich den in seinem Titel und Untertitel erhobenen Anspruch einzulösen.

Das Werk hinterläßt deshalb einen zwiespältigen Eindruck. Als Handbuch über die Geschichte der europäischen Diktaturen im zwanzigsten Jahrhundert ist es seinen Preis durchaus wert. Als Erinnerung daran, welche Tendenzen jenseits der allerseits gern hervorgehobenen "Demokratisierung" im Europa des 20. Jahrhunderts tatsächlich zunächst vorherrschten, kann man es nur begrüßen. Aber zur Erklärung dessen, was doch geklärt werden müßte - die fast ubiquitäre Tendenz zur Diktatur beim Übergang in die Moderne - liefert es nur einen bescheidenen Beitrag. Da wäre sorgfältiges Zielen besser gewesen als der schnelle Schuß aus der Hüfte.

Gerhard Besier, Katarzyna Stokłosa: Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006, gebunden, 880 Seiten, 29,90 Euro

Foto: Stalin, Tito und Hitler werden auf einem Flohmarkt in Laibach angeboten, März 2005: Konzept der "säkularisierten" politischen Religion mit Faszination für das Moderne


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