© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 42/06 13. Oktober 2006

"Tief aber und radikal ist immer nur das Gute"
Freiheit ist die Freiheit der politisch Denkenden: Zu ihrem hundertsten Geburtstag wird Hannah Arendt endlich neu entdeckt
Alain de Benoist

Lange Zeit fand ihr Werk kaum Beachtung. Die Rechte hielt sie aufgrund ihrer Kritik des liberalen Kapitalismus für eine linke Autorin, der Linken galt sie wegen ihrer Abneigung gegenüber dem Kommunismus und ihrer Begeisterung für die griechische polis als Rechte. "Ich muß sagen, daß mir das völlig gleichgültig ist", sagte sie 1972 bei einem Vortrag in Toronto. "Ich glaube, daß solche Dinge die eigentlichen Fragen dieses Jahrhunderts nicht im geringsten erhellen." Die breite Öffentlichkeit liest sie erst seit wenigen Jahren. Ihr dreißigster Todestag im vergangenen Jahr, erst recht nun ihr hundertster Geburtstag am 14. Oktober 2006 hat eine Flut von Veröffentlichungen ausgelöst - Hannah Arendt wird neu entdeckt.

Johanna Arendt wurde in Linden nahe Hannover in eine nichtreligiöse jüdische Familie russischer Herkunft hineingeboren. Ihre Eltern waren Sozialdemokraten und sympathisierten mit dem Reformjudentum.

Nachdem sie als Vierzehnjährige Kants "Kritik der reinen Vernunft" gelesen hatte, nahm sie 1924 ein Philosophiestudium in Marburg auf. Dort besuchte sie die Vorlesungen Martin Heideggers. Zwischen dem verheirateten Professor und seiner Schülerin entspinnt sich eine äußerst intensive Liebesbeziehung, die im folgenden Jahr endet, bei beiden aber tiefe Spuren hinterläßt. Bis zu ihrem Lebensende wird Hannah Arendt Heidegger als den "heimlichen König" alles zeitgenössischen Denkens betrachten.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 nach Paris ausgewandert, siedelt sie 1941 mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher und ihrer Mutter in die USA über. Erst Ende 1949 kehrt Arendt nach Deutschland zurück und ist enttäuscht über das dort herrschende politische Klima. Im Dezember 1951 nimmt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an.

Totalitarismus als Abart der Moderne

Ihr großes Buch über den Totalitarismus, das sie 1949 fertigstellte, erscheint 1951 in englischer Sprache (dt.: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1955). Arendt wandte sich entschieden gegen Theorien, die in den totalitären Systemen "archaische" und irrationale Elemente wiederauferleben sahen oder sie lediglich als extreme Formen des klassischen Despotismus begriffen. Vielmehr behauptete sie, der Totalitarismus sei eine radikal neue Erscheinung, die mit den Tyranneien oder Diktaturen der Vergangenheit nichts gemeinsam habe und deren Wesen sich nur durch eine kritische Analyse der Moderne erschließen lasse.

Genauer gesagt verstand sie den Totalitarismus als Endpunkt einer gesellschaftlichen Krise, die aus der spezifischen Entwicklung der Moderne entstanden sei, als eine pathologische Abart, eine krampfartige Ausprägung gewisser charakteristischer Tendenzen der modernen Welt. "Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen", so Wolfgang Heuer, "steht der existentielle Ruin des modernen Massenmenschen, der ihn heimatlos gemacht hat, und die Zerstörung des politischen Raums."

Modern zu sein, behauptet Arendt, bedeute eine neue Verfaßtheit des Selbst. Der Totalitarismus entstehe aus der Atomisierung der Gesellschaft, die historisch mit dem Aufstieg und der politischen Emanzipation der bürgerlichen Klasse einhergegangen sei. Das Bündnis zwischen Bürgertum und entwurzelten Massen war für sie ein Schlüsselelement in der Entstehungsgeschichte des Totalitarismus, in dem zugleich Untergang oder Auflösung der sozialen und politischen Struktur Europas sichtbar werde. Welche Rolle die Industrialisierung und die rasenden Fortschritte in Technik und Wissenschaft dabei spielen, hat zuletzt auch der Soziologe Zygmunt Bauman aufgezeigt.

Den Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts sieht Arendt als einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in den Totalitarismus. Er sei die nach außen gerichtete Aktion einer innerlich bereits zerstörten Gesellschaft: In einem Moment, da sie selbst von ihren historischen und politischen Grundlagen abgeschnitten sei, versuche sie fremde Völker zu ihrem Modell zu bekehren.

Der Imperialismus gehe Hand in Hand mit dem Rassismus, den Arendt keineswegs als einen pathologisch entgleisten Nationalismus deutet, sondern im Gegenteil als eine Ideologie, die darauf abziele, einen "Nationsersatz" bereitzustellen, als sich die Krise des Nationalstaats bereits abzeichnete. Der Rassismus, so Arendt, schaffe die am besten geeignete ideologische Grundlage, um eine entwurzelte Masse vereinzelter Individuen zusammenzuhalten, die infolge der durch die Moderne verursachten Auflösung organischer Strukturen oder traditioneller Zusammenhalte ihrer sozialen Bindungen beraubt worden seien. Ebendiese entwurzelte Masse mit ihrer Bereitschaft zur "totalen Mobilmachung", zum Anhalten der Geschichte und zur Schöpfung eines "neuen Menschen" bilde den Nährboden für die Totalitarismen.

Den modernen Antisemitismus schreibt Arendt ebenfalls der Krise des Nationalstaats zu. Die These eines "ewigen Antisemitismus" weist sie zurück: Der Antisemitismus, der infolge der Judenemanzipation in Europa ausbrach, sei keineswegs eine Fortsetzung des antiken oder mittelalterlichen Antijudaismus. Statt dessen wirft sie die Frage auf, inwieweit die von den modernen Staaten verordnete formale Gleichberechtigung mit neuen Formen des Ausschlusses einhergehen könne.

Allgemeiner betont Arendt, weder der Sozialismus noch der Nationalismus, weder der Rassismus noch der Antisemitismus seien an sich totalitär, sondern würden es erst, sobald totalitäre Bewegungen sich ihrer bemächtigten. Umgekehrt enthielten sämtliche Ideologien totalitäre Elemente - der historisch entstandene Eindruck, daß einzig der Rassismus und der Kommunismus totalitären Charakter hätten, täusche.

Es gilt also weniger den Gehalt totalitärer Ideologien zu untersuchen als vielmehr die totalitäre Ideologie als Denkform oder anders gesagt die Logik, die in dieser Ideologie am Werk ist.

Die totalitäre Ideologie zeichne sich durch eine "paranoide" Kohärenz aus, die nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern diese zu ordnen versuche, indem sie sie simplifiziert. Die Massen sehnten sich danach, der Wirklichkeit zu entkommen, deren unbegreifliche Zufälligkeit sie in ihrer Entwurzelung nicht mehr ertragen könnten. Daher rühre die Macht der Ideologien. Sie verketten Ideen miteinander - ohne Bezug auf die Wirklichkeit, jedoch mit der eindeutigen Absicht, ebendiese Realität zu ersetzen. Die Ideologie vermag alles zu erklären. Ihr fehlt lediglich jedwedes Wahrheitskriterium.

Die Art und Weise, wie totalitäre Regime funktionieren, ist deshalb aufschlußreicher als die Ideologie, auf die sie sich berufen, oder die Ziele, die sie zu verfolgen behaupten. Ihr Motor ist der Terror, dessen alltägliche Anwendung jeden treffen kann. Anders als die klassischen Diktaturen, die sich damit begnügen, jegliche Opposition verschwinden zu lassen, wollen totalitäre Regime über das Innenleben herrschen und die Gedanken kontrollieren. Der Terror nimmt selbst dann kein Ende, wenn die Opposition längst ausgemerzt ist. (Der Stalinismus schickte Menschen ins Gulag, die sterbend ausriefen: "Es lebe Stalin!") Getragen von der Ideologie des Selben, strebe der Totalitarismus die endgültige Ausrottung des Anderen an. Der Totalitarismus, so Arendt, ziele nicht darauf ab, Menschen despotischen Regeln zu unterwerfen, sondern auf ein System, in dem Menschen überflüssig sind.

Arendts Analyse des Totalitarismus erregte heftige Debatten und manches Mißfallen. Vor allem der Umstand, daß sie Kommunismus und Nationalsozialismus nebeneinander untersuchte, löste in linken Kreisen einen Skandal aus.

Das gilt erst recht, als Hannah Arendt ihre Analyse des Totalitarismus mit einer Kritik der Menschenrechtsideologie verband. Den Menschen an sich, als reine Abstraktion zu postulieren, bedeutete für sie keineswegs, seine Rechte zu garantieren, sondern mache ihn ganz im Gegenteil erst recht verwundbar. Mit ihrer Behauptung des "Menschen als Menschen" erweise sich die Ideologie der Menschenrechte unfähig zu begreifen, daß Rechte dem Menschen einzig in seiner Eigenschaft als Bürger garantiert werden können, als Mensch mit einem politischen Status also. Die Menschenrechte könnten lediglich Rechte auf Einzigartigkeit sein, nicht im Sinn von Relativismus, sondern in dem Sinn, daß sie effektiv nur Rechte garantieren könnten, die in einer politischen Gemeinschaft wurzeln. Die Menschenrechtslehre verkenne, daß es ohne Anerkennung der Unterschiede zwischen Menschen keine wirksamen Rechte geben kann.

Die Antike verachtete Arbeit als Unfreiheit

Noch wichtiger als ihre Untersuchung des Totalitarismus ist Arendts 1958 veröffentlichtes Buch, das in Deutschland unter dem Titel "Vita activa oder Vom tätigen Leben" erschien. Darin nimmt Arendt ständig Bezug auf das antike Griechenland - man hat ihr deswegen "Graecomanie" nachgesagt -, um das Wesen des Politischen zu definieren und die falschen Darstellungen zu kritisieren, denen es seither anheimfiel.

Arendt zufolge beinhaltet das griechische Modell zunächst die Schaffung eines politischen Raumes, des einzigen Ortes, an dem die menschliche Qualität des Menschen zu ihrem wahrhaftigen Ausdruck kommt, indem er eine gemeinsame Welt ermöglicht, die vom Nomos beherrscht wird. Der Raum, den die Politik öffnet, entsteht durch öffentliche Diskussion zwischen den Bürgern. Subjektive Meinungen werden zu Elementen einer objektiven Reflexion über das Gemeinwohl. Politik gibt es nur dort, so Arendt, wo die Menschen sich gegenseitig als Bürger anerkennen und sich innerhalb einer gemeinsamen Welt verorten.

Das klingt ein wenig nach Heidegger, für den der Begriff "Mitsein" auf eine "Gemeinsamkeit" verwies. Arendt geht sogar so weit zu behaupten, die Grundlage der Menschlichkeit des Menschen sei ein und dieselbe wie die Grundlage des Politischen. Für sie ist der Mensch ein politisches Wesen, aber kein von Natur aus politisches. Im Gegenteil macht die Politik, die sie definiert als Schaffung einer menschlichen Welt außerhalb der "natürlichen Natur", die menschliche Natur aus. Sobald er den politischen Bereich verläßt, fällt der Mensch gleichsam in ein tierisches Dasein zurück.

Bei Arendt wird die Politik zum wichtigsten Ausdruck menschlicher Freiheit. Sie kann niemals die Form von Notwendigkeit annehmen, ohne Verrat an ihrem Wesen zu begehen: Wenn ein Politiker behaupte, menschliches Handeln sei stets der Notwendigkeit unterworfen, oder gar glauben machen wolle, es gebe nur eine einzige Lösung für ein politisches Problem, spreche er nicht mehr politisch.

An dieser Stelle zielt Arendts Kritik wohlverstanden auf die Technokraten und die Vertreter der "Expertokratie". Genauso trifft sie jedoch den Totalitarismus und jede andere Form von Historismus. Dario De Facendis schreibt dazu, "wenn irgendeine Notwendigkeit, sei sie historisch, theologisch, politisch oder wirtschaftlich geartet, zum letztgültigen Kriterium wird, das Wirkliche zu beurteilen, wird das Wirkliche in dem Maße nicht mehr als solches geachtet, in dem es sich dieser Notwendigkeit beugt".

Eben weil es der Herrschaft des Notwendigen entzogen ist, ermöglicht das Politische Pluralität - jedoch nicht bloß in dem Sinn, den der Liberalismus diesem Begriff gibt. Wenn Arendt von Pluralismus spricht, meint sie weit mehr als nur die Pluralität der Meinungen oder Parteien. Bei ihr umfaßt dieses Wort auch die Vorstellung, daß es in der Politik immer mehrere mögliche Antworten auf ein Problem gibt, daß die öffentliche Diskussion durch die Konfrontation zwischen unterschiedlichen Weltbildern die plurale Dimension des menschlichen Verstandes deutlich machen muß. Nichts ist dem politischen Handeln abträglicher als eine Regierungsform, die sich auf bloße Sachwaltung beläuft.

Wie Arendt feststellt, ist dieser Begriff des Politischen heute größtenteils verlorengegangen. Sie beschäftigt die Frage, wann und wie dieser Bruch mit der Tradition stattgefunden hat und wo der Ursprung jener allgemeinen Entwurzelung liegt, die dem Totalitarismus seinen Nährboden geboten hat. Ihre Antwort lautet, daß die Neuzeit mit der Tradition gebrochen habe, indem sie die Arbeit zur dominanten Tätigkeit erhob.

Sie erinnert daran, daß die Antike Arbeit als Unfreiheit par excellence verachtete: Für den freien Bürger bedeutete sie einen sozialen Abstieg. Nicht daß Arbeit nicht notwendig gewesen wäre, aber eben ihre Notwendigkeit machte sie unwürdig. Arbeit kennzeichnete zudem die Sphäre des Privaten, während sich in der öffentlichen Sphäre für die Griechen die Freiheit manifestierte. Der Mensch als Bürger, sagten sie, behaupte seine öffentliche und nicht seine private Identität.

Der Abweg begann somit in jenem Moment, da der Mensch nicht mehr als um das Gemeinwohl besorgter Bürger, sondern im Namen seiner privaten Interessen auf die politische Bühne trat. Arendt datiert ihn auf den Aufstieg der bürgerlichen Klasse, die das Politische auf eine Arena reduziert habe, in der Interessenkonflikte ausgetragen werden. Seinem Wesen als Ort des Gemeinwohls entsprechend sei das politische Leben in Gefahr, sobald das Privatinteresse (oder auch die "Zivilgesellschaft") die Herrschaft darüber zu ergreifen drohe.

Vehement prangert Arendt die Bürgerlichkeit an, die sie als regelrechte Negation der politischen Grundlage des Menschlichen und zugleich als Begründer der Moderne versteht. Das moderne Bürgertum gebe der privaten Sphäre den Vorzug, die es für den Ort des freien Handelns, ja der Freiheit halte. Nun galt wie gesagt bei den Griechen ganz im Gegenteil die öffentliche Sphäre als Träger der Freiheit, während die private Sphäre als Ort der Produktion und Reproduktion völlig der Notwendigkeit unterstand. Der Drang zur Produktion und zum Konsum ist die moderne Form der Notwendigkeit. Somit verkehrt die Moderne die anthropologischen und normativen Strukturen, die das griechische Denken kennzeichneten, in ihr genaues Gegenteil. Das Prinzip des liberalen, bürgerlichen Individualismus besteht in der Enteignung dessen, was der Allgemeinheit gehört.

Den Schluß des Buches bildet die historische Analyse eines massiven Entfremdungsprozesses durch die Entstehung der "Arbeitsgesellschaft" von Locke und Adam Smith bis zu Karl Marx. Arendt wirft Marx vor, nicht zwischen Herstellen und Arbeiten zu unterschieden. Wie alle liberalen Wirtschaftswissenschaftler habe er das eine auf das andere reduziert, indem er der Arbeit positive Eigenschaften zuschrieb, die nur auf das Herstellen zuträfen. Der Arbeiter, der sich vom Gesetz des Kapitals emanzipiere, aber dem Ideal des bloßen Genusses von Konsumwaren verhaftet bleibe, befreie sich aus einer Abhängigkeit, um sich sogleich der Herrschaft eines neuen Herren zu unterwerfen: der Arbeit selber. Der Kapitalismus sei also weniger (wie Marx glaubte) ein Raub des Mehrwerts als vielmehr ein ontologischer Raub: Gefangen im endlosen Kreislauf aus zwanghafter Produktion und Konsum, enteignet sich die Menschheit ihrer selbst.

Arendt läßt keinen Zweifel daran, daß in solchen "Arbeitsgesellschaften" neue Formen des Totalitarismus entstehen können. Mit ihrem geschäftigen wirtschaftlichen Treiben gleichen sie riesigen Ameisenhaufen. Sie zeichnen sich aus durch die Verwechslung des Privaten mit dem Öffentlichen, die Implosion des Politischen und das besessene Streben nach grenzenlosem Wirtschaftswachstum. Die gesellschaftliche Atomisierung, deren Ursache nicht zuletzt in der Hegemonie der Arbeit liegt, bewirkt, daß die Menschen in gewisser Weise austauschbar werden. Sie geht einher mit dem Verlust von Orientierungsmarken. Massen von Menschen werden ihrerseits überflüssig.

Entgegen denjenigen, die in der westlichen Zivilisation das Erbe Griechenlands sehen, behauptet Arendt, der Westen sei durch einen Bruch mit seinem griechischen Vermächtnis entstanden. Dies bedauert sie zutiefst. Ohne Autorität gebe es keine Freiheit, ohne Tradition keine Weitergabe von Erfahrung, aus der sich die Urteils- und Denkkriterien ableiten.

Als Realistin glaubt sie jedoch nicht an die Möglichkeit einer Rückkehr zur Tradition, sehr wohl aber eine Rückbesinnung auf die Denkarbeit. Wenn die Tradition, aus der sich Urteilskriterien beziehen ließen, untergegangen ist, kann nur die Denkarbeit neue schaffen. Zwar sind die Bedingungen des modernen Lebens ungünstig, denn es gleicht einem Strudel hinaus, in dem man nicht mehr zum Denken kommt. Trotzdem bleibt das Denken, und insbesondere das kritische Denken, zugleich das Gegenteil der Tradition und das einzige, was ihr Verschwinden ausgleichen kann.

Das Böse wird banal, sobald man keine Fragen stellt

1963 löste Arendts Buch über den Eichmann-Prozeß in Jerusalem, über den sie im Auftrag des New Yorker Bericht erstattete, einen Skandal aus (dt.: Eichmann in Jerusalem. Bericht von der Banalität des Bösen). Gegenstand der gegen sie entfachten Kampagne war zum einen ihre Wendung von der "Banalität des Bösen", zum anderen die Vorwürfe, die sie gegen "jüdische Verräter", insbesondere die von den Nazis eingesetzten "Judenräte" erhob. In Frankreich verstieg sich die linke Wochenzeitung Le Nouvel Observateur zu der Schlagzeile: "Ist Hannah Arendt ein Nazi?"

Für Hannah Arendt hat das Böse nichts Metaphorisches oder Teuflisches, sondern ist eine rein menschliche Angelegenheit. Denn durch das Böse entäußerten sich die Menschen ihrer Menschlichkeit. Der Totalitarismus gilt ihr als konkreter Beweis, daß ein solches Böses existiert. "Das Böse ist immer nur extrem, aber niemals radikal. ... Tief aber und radikal ist immer nur das Gute", verteidigte sie ihre Wortwahl gegenüber der Kritik von Gershom Scholem.

An Adolf Eichmann fällt Arendt vor allem der Mangel eigener Gedanken, die Urteilsunfähigkeit auf. Seine Einstellung, schreibt sie, entspringe einem ideologisch gefestigten bürokratischen Nicht-Denken. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Mangel an Überzeugung habe Eichmann Befehle befolgt. Das Böse werde "banal", sobald man keine Fragen mehr stelle.

1969 wird Arendt, die seit 1963 eine Professur an der Universität von Chicago innehat, auf einen Lehrstuhl für politische Philosophie an der renommierten New School for Social Research in New York berufen. Sie stirbt am 4. Dezember 1975 an Herzversagen, bevor sie ihr Werk vollenden konnte.

Die Autorin der "Vita activa" war weder Liberale noch Sozialistin, geschweige denn Kommunistin. Ihr Beweggrund war niemals Selbsthaß, denn sie kritisierte stets die Kultur des Ressentiment, in der sie ein weiteres Kennzeichen der Moderne sah. Sie verstand sich nicht als Philosophin, sondern als "politische Theoretikerin". Als echte Intellektuelle galt ihre Leidenschaft zeitlebens den Ideen, ohne daß sie je der Versuchung abstrakter Theorien und geschlossener Systeme erlegen wäre. Vor allem hat sie immer ihre eigenen Gedanken gedacht.

"Bis ans Ende meiner Tage", sagte der Philosoph Hans Jonas in seiner Traueransprache in New York, "wird es mir schwerfallen, mir eine Welt ohne Hannah Arendt vorzustellen."


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