© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Kolumne
Die Dilemmata der Demokraten
Rolf Stolz

Es gibt sie reichlich, diese falschen Propheten, die uns eine einfache, bequeme Erklärung der Welt versprechen, um auf dem Fundament eherner Vermutungen und entschlossener Vorurteile die Zauberrezepte zur Lösung der Weltprobleme um- und in den Sand zu setzen. Angeblich ist alles einfach und klar ... In allen politischen und religiösen Lagern - bei den extremen Linken wie bei gemäßigten Konservativen - sind die schrecklichen Vereinfacher nicht eine Minderheit, sondern ein Massenphänomen.

Man nehme die Tendenz, nur Gute und Böse, Heilige und Halunken zu sehen, obwohl die Wirklichkeit nun einmal ist, wie sie ist: fatal verworren und voller unlösbarer Widersprüche. Der Mensch ist eben nicht einfach gut, sondern teils-teils, und das immer schon: deutsche Mordsoldaten und Mordpolizisten hier, deutsche Gerechte der Völker dort, Heldenmut und menschliche Größe selbst in den KZs und im Inferno von Bombenkrieg und Vertreibung einerseits und, wie der jüdische Geschichtserforscher Theo Richmond in seinem exzellenten Buch "Konin" nüchtern und bitter festhält, gerade eben befreite KZ-Häftlinge, die Rachemorde an deutschen Flüchtlingen begehen, oder ein polnischer Mob, der 1945/46 in ihre Häuser zurückkehrende Juden umbringt, andererseits. Massenmord ist eben weder eine Singularität noch "unmenschlich". Auschwitz, das ist die hundsgewöhnliche Menschheit an einem der schlimmsten ihrer vielen Tiefpunkte.

Wird es schon bei der Analyse unübersichtlich, so warten erst recht die Dilemmata auf uns, wenn es um politisches Handeln geht. Die Demokratie, zu deutsch die Volksherrschaft, wollen demokratische Rechte und demokratische Linke überhaupt erst einmal von einem Anspruch zu einer Realität machen und sie dann wehrhaft verteidigen - auch in dem nachträglichen Wissen, es wäre besser gewesen, 1923 die Hitler-Bande und ihren Anführer dauerhaft unschädlich zu machen. Auf der anderen Seite wollen wir keinen Polizeistaat, wollen Meinungsfreiheit für die Andersdenkenden und eine offene Debatte.

Also müssen wir mit den braunen Socken, der DDR-Nostalgiker-Meute, den Antifa-Blockwarten und anderen unerfreulichen Zeitgenossen offensiv zurechtkommen. Immerhin ist es besser, in einem heiklen Balance-Akt auf dem Drahtseil unterwegs zu sein, als abgesichert im Sumpf zu stecken. Lieber das volle Risiko als den garantierten Bankrott!

 

Rolf Stolz war Mitbegründer der Grünen und lebt als Publizist in Köln.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen