© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Polnische Täterperspektiven
In seinem Buch über die Judenpogrome in Nachkriegspolen spricht Jan Tomasz Gross den Polen einen latenten antisemitischen Reflex zu
Ivan Denes

Manchmal kreuzt der Werdegang eines Buches die Zeitgeschichte in tagespolitisch wirkungsvoller Weise. Das ist zweifellos der Fall mit der historischen Darstellung der Judenverfolgungen in Polen nach Ende des Zweiten Weltkrieges in Jan Tomasz Gross' "Angst" (Fear). Denn das Buch des Princeton-Professors erscheint just zu einem Zeitpunkt, in dem die polnisch-deutschen Beziehungen auch wegen erinnerungspolitischer Dissonanzen um das Zentrum gegen Vertreibungen einen neuen Tiefpunkt erreicht haben (JF 34/06). Der Zusammenhang ergibt sich von selbst aus dem epischen Faden des Buches.

Gross stellt nämlich fest, daß nach Kriegsende eine große Zahl Juden aus den östlichen Gebieten Polens, die aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes im September 1939 von der Roten Armee besetzt wurden, dann vor dem Vormarsch der Wehrmacht ins Innere der Sowjetunion geflüchtet waren, 1945 in ihre polnische Heimat zurückgekehrt sind. An einer Stelle nennt er sogar Zahlen - es sollen über eine Viertelmillion Menschen gewesen sein (die bei der Erstellung der gängigen Holocaust-Statistiken kaum in Betracht gezogen wurden), die dann infolge von mindestens drei antisemitischen Wellen (1945-48, 1956-57, 1968) emigrierten oder genauer gesagt: aus Angst um ihr Leben zur Flucht (Emigration) gezwungen wurden. Die also mit Fug und Recht genauso als "Vertriebene" gelten müßten wie ihre deutschen Leidensgenossen.

Jan Gross hat sich schon mit seinem früheren Buch "Nachbarn" (2001) einen Namen gemacht. Darin beschrieb er detailliert das von Polen 1941 nach Einmarsch der Deutschen in Jedwabne und Umgebung inszenierte Pogrom. Im Mittelpunkt seiner neuen Untersuchung steht jedoch der Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946, in dessen Verlauf 42 Juden von einem Mob - unterstützt von Behörden, Polizei und Armee - ermordet und viele andere verletzt wurden.

Die Welle schlug aber weit über Kielce hinaus: Nach 1945 verzeichnet Gross in Polen über tausend Morde an Juden. Über den endemischen Antisemitismus hinaus, den er bis heute in Polen wahrzunehmen glaubt, diagnostiziert Gross mehrere Gründe und Vorwände. In Kielce wie auch andernorts wurde das in der Historie immer wieder gern bemühte Gerücht lanciert, im Keller eines jüdischen Heimes in der Planty-Straße 7 sein ein christliches Kind umgebracht bzw. ausgeblutet worden. Zwar hatte das Haus überhaupt keinen Keller und es wurde auch kein Kind ermordet, aber der entfesselte Mob konnte nicht aufgehalten werden.

Keine größere Rolle der Juden im Kommunismus

Ein weiterer Grund für die Wiederbelebung der antisemitischen Grundströmung in der polnischen Bevölkerung war ebenfalls aus anderen osteuropäischen Ländern bekannt, nämlich daß man den Juden eine wichtige Rolle bei der Implementierung des kommunistischen Systems nach Einmarsch der Roten Armee zusprach. Nach gründlichen Recherchen stellt jedoch Gross fest, daß in Vorkriegspolen bei einer Gesamtbevölkerung von 35 Millionen die kommunistische Partei 25.000 bis 30.000 Mitglieder zählte, von denen etwa 7.000 bis 7.500 Juden waren - ein überdurchschnittlich hoher Anteil innerhalb der KP, doch geringfügig (0,2 Prozent) gemessen an den 3,5 Millionen polnischer Juden.

Auf das Pogrom von Kielce reagierten die sozialen Strukturen - die Staatsbürokratie, die Justiz, die Kirche, aber auch die regierenden KP - durchaus passiv. Um jeden Preis sollte der Anschein vermieden werden, das kommunistische Regime baue einen Schutzschild vor den Juden auf. Aber Gross geht in seiner Analyse noch weiter: Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern konnte in Polen der Holocaust am wenigsten übersehen werden. Die Masse der Bevölkerung "stand am Straßenrand" und schaute zu, wie Millionen deportiert wurden. Sobald die Besatzungsmacht die Möglichkeit dafür freigab, machte man sich durch Raub der Güter deportierter Juden zu Mittätern. Die Frage der Restitution der von Polen geraubten materiellen Güter ist bis zum heutigen Tag weitgehend ungelöst, aber durchaus geeignet, Haßgefühle gegenüber den ehemaligen rechtmäßigen Inhabern zu generieren.

Gross verfolgt den Faden weiter, er beharrt subtil auf ein sozialpsychologisches Phänomen: Den Opfern werde bis zum heutigen Tag nicht verziehen, daß man ihre Verfolgung und Verschleppung tatenlos mit angesehen hatte. Die wenigen polnischen Bürger, die ihren früheren jüdischen Nachbarn geholfen hatten, mußten sogar ihren risikoreichen Beistand jahrzehntelang verheimlichen, um nicht sozial ausgegrenzt zu werden. Im Klartext: Man verzeiht den Opfern nicht, daß sie zu Opfern wurden. Für jeden, der die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert verstehen will, ist die Lektüre dieses Buches ein Imperativ.


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