© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/06 20. Oktober 2006

Krankenkassen vor dem Kollaps
von Michael Lennartz

Im Juni 1883 billigte der Reichstag das Gesetz zur Krankenversicherung als erstes von drei Sozialversicherungsgesetzen, die Reichskanzler Otto von Bismarck politisch durchsetzen konnte. Es war ein großer Moment in der politischen Geschichte dieses Landes. Das obrigkeitsstaatlich organisierte Deutschland stellte die Weichen in Richtung Sozialstaat und soziale Absicherung und wurde in dieser Hinsicht zu einem der fortschrittlichsten Staatsgebilde der damaligen Zeit.

Deutschland leistet sich seitdem eine Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit Solidaritätsprinzip, in der heute etwa neunzig Prozent der Bevölkerung versichert und integriert sind (40,7 Prozent Pflichtversicherte, 20 Prozent Rentner, 8,5 Prozent freiwillig Versicherte, 30,8 Prozent mitversicherte Familienangehörige). Das Solidaritätsprinzip erhebt einen einkommensabhängigen Beitrag. Umgekehrt sichert es - ohne Rücksicht auf Einkommen und sozialen Status (Sozialgesetzbuch V und XI) - einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch auf "ausreichende", "bedarfsgerechte", dem "allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende" sowie "wirksame" und "humane" Versorgung, die das "Notwendige" nicht überschreitet. Um dies zu ermöglichen, gibt es vielfältige Umverteilungsprozesse innerhalb der GKV - von gesunden zu kranken Versicherten, von alleinstehenden Versicherten zu Familien, von jungen zu alten Versicherten, von Beziehern höherer zu Beziehern geringerer Einkommen.

Die Beiträge für die GKV werden durch ein Umlageverfahren erhoben, die Versicherungspflicht tritt mit der Aufnahme eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ein. Die Beiträge wurden bis zum 30. Juni 2005 in gleichen Teilen von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern getragen. Im Jahre 2003 betrug der Beitragssatz 14,5 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens. Die Arbeitgeber wurden mit 7,25 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme für die Krankenversicherung belastet. Bei einem Durchschnittseinkommen von 2.436 Euro in der Sozialversicherung sind dies 176 Euro. Die Lohnnebenkosten für ein Durchschnittseinkommen saldieren sich dabei auf 513,39 Euro (176 Euro GKV, 237,51 Euro Rentenversicherung, 20,71 Euro Pflegeversicherung, 79,17 Euro Arbeitslosenversicherung), so daß ein Arbeitgeber für einen Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen eine Belastung von 2.949,39 Euro pro Monat zu tragen hat.

Dieses System einer solidarischen Krankenversicherung droht in den nächsten Jahren zu kollabieren. Im wesentlichen können für diesen Kollaps vier Gründe genannt werden: Erstens die demographische Entwicklung mit einer Überalterung der Gesellschaft, zweitens der Wandel des Krankheitspanoramas von Akutkrankheiten hin zu kostenintensiven chronischen Erkrankungen, drittens der medizinische Fortschritt mit immer teureren medizinischen Prozeduren und viertens die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes mit langfristig immer weniger sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen.

Ergebnis dieser Entwicklung sind stetig steigende Beitragssätze, die als Lohnnebenkosten den Faktor Arbeit in Deutschland verteuern und damit die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft negativ beeinflussen. Prolongiert man die vorhandene Ausgabenentwicklung, so ergibt sich für das Jahr 2040 ein Beitragssatz für die GKV von 24,8 Prozent und für 2055 ein Beitragssatz von 27 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Bruttoeinkommens.

Mit den anderen Abgaben für die Sozialversicherung müßten dann fast zwei Drittel des Bruttoeinkommens für Sozialabgaben aufgewendet werden. Die zukünftigen Beitragszahler, die nach Meinung vieler diese Last schultern sollen, leben heute schon unter uns. Es sind die in diesem Jahrzehnt geborenen Kinder.

Prolongiert man die Ausgabenentwicklung, müssen im Jahr 2055
27 Prozent des Bruttoeinkommens für die Krankenversicherung
aufgewendet werden. Die künftigen Beitragszahler leben schon unter uns: Es sind die in diesem Jahrzehnt geborenen Kinder.

Das Problem eines umlagefinanzierten Krankenversicherungssystems liegt in der bisherigen Praxis, daß bereits mit der ersten Beitragszahlung sofort alle Leistungsansprüche erworben werden und daß viel zu wenigen Nettozahlern eine immer größer werdende Schar von Nettoleistungsempfängern gegenübersteht. Da beim Umlageverfahren die laufenden Ausgaben aus den aktuellen Einnahmen gedeckt werden, wirken sich Veränderungen auf der Einnahme- oder Ausgabenseite relativ schnell dramatisch aus. Deutlich wird dies in der Generationenbilanz. Die Generationenkonten weisen nur für die Vierzehn- bis Siebenunddreißigjährigen Nettozahlungen aus, alle anderen, Jüngere und Ältere, erhalten mehr an Leistungen von der GKV, als sie einzahlen. Im Maximum wird ein 27jähriger 6.900 Euro an Beiträgen über seine verbleibende Lebenszeit in die GKV einzahlen. Demgegenüber beziffert sich der maximale Nettotransfer für einen über 67jährigen auf 32.200 Euro. Laut dem Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg sind die Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit im höheren Alter etwa um den Faktor 8 größer als im Alter von 20. Das Verhältnis der Pro-Kopf-Ausgaben zwischen Jung und Alt betrug 1992 noch 1:8, es könnte sich aber durch diese Verschiebungen bis 2040 auf über 1:20 erhöhen.

Berücksichtigt man diese demographische Schieflage, so wird deutlich, daß das System kollabieren muß. Berechnungen des Instituts für Finanzwissenschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die in einem "Kostendruckszenario" von einem Anstieg der Ausgabenkomponenten des Gesundheitssystems um 2,5 Prozent per anno ausgehen, können die Dimension des Problems verdeutlichen. Unter dieser Voraussetzung, die zudem konservativ geschätzt ist, würden alle "Durchschnittsindividuen" generationenunabhängig zu Nettoleistungsempfängern, von denen niemand auch nur annähernd den Barwert der voraussichtlichen Leistungen durch Beiträge eingezahlt hätte. Dementsprechend verwundert es nicht, daß sich im Kostendruckszenario eine "Nachhaltigkeitslücke" von 4,1 Billionen Euro ergibt. Für den Fall, daß allein zukünftige Generationen diese Nachhaltigkeitslücke schließen müßten, bezifferte sich deren Mehrbelastung auf 84.600 Euro pro Kopf.

Um diesem Problem Herr zu werden, diskutieren die Parteien unterschiedliche Modelle. Die Unionsparteien favorisieren die solidarische "Gesundheitsprämie". Diese Gesundheitsprämie beträgt sieben Prozent des Bruttoeinkommens, maximal 109 Euro. Aus dem Arbeitgeberzuschuß von 6,5 Prozent (48 Milliarden), einem Anteil der Renten- und Arbeitslosenversicherung (17 Milliarden) und einem Steueranteil (7 Milliarden) wird ein Sondervermögen gebildet. Von diesen 72 Milliarden jährlich werden 16 Milliarden über den Sozialausgleich des Staates an diejenigen gezahlt, bei denen 109 Euro die sieben Prozent des Bruttoeinkommens (1.557,22 Euro) überschreiten würden. 41 Milliarden jährlich gehen als Arbeitgeberanteil von bis zu 60 Euro monatlich an die Versicherten, die die Gesamtprämie von 169 Euro an ihre GKV überweisen. Über weitere 16 Milliarden werden die Kinderprämien von 78 Euro für die Kinder der gesetzlich und privat Krankenversicherten gezahlt.

Das Unionsmodell weist jedoch erhebliche Mängel auf: Es ist ein Versicherungsmodell im Umlageverfahren, das heißt die Leistungen werden aus den Beiträgen der Erwerbstätigen und Arbeitgeber bezahlt. Nachteile des Umlageverfahrens sind steigende Beitragssätze oder Pauschalen, eine verstärkte Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt durch Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Osten, eine steigende Zahl von Firmeninsolvenzen, ein sinkendes Nettoeinkommen und keine Berücksichtigung der demographischen Entwicklung.

Ehe und Familie stehen unter dem besonderem Schutz staatlicher Ordnung (Artikel 6, Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes). Dieser Erziehungsarbeit wird in unserem Staat die gesellschaftliche Anerkennung und entsprechende Entlohnung vorenthalten. Das Bundesverfassungsgericht hat den Bundestag in mehreren Entscheidungen aufgefordert, die Situation der Familien zu verbessern: sei es bei der Berücksichtung der Erziehungsleistung der Eltern in den Sozialsystemen im Vergleich zu Kinderlosen oder mit der Aufforderung, das Existenzminimum für Kinder steuerfrei zu stellen. In der GKV versicherten Eltern wird durch die Gesetzgebung des Staates die Wahlfreiheit genommen, selbst zu entscheiden, wie und in welchem Umfang sie und ihre Kinder versichert sind. Eine Bezahlung von Erziehenden mit rund 600 Euro pro Kind und Monat anstelle von Elterngeld und anderen Maßnahmen würde das Einkommen und die freie Entscheidung der Eltern verbessern, wo sie wann welche Nachfrage tätigen.

Die SPD bevorzugt die Bürgerversicherung (BV). Hier wird der Kreis der Versicherungspflichtigen um die Selbständigen und Beamten erweitert. Die BV führt zu einer Verstärkung der Zweiklassenmedizin. Ein Mehrverdiener wird sich durch Abschluß einer Privatversicherung eine bessere medizinische Versorgung sichern. Für die nur Bürgerversicherten bedeutet sie jedoch, daß der Staat das Niveau festlegt - und da die Einnahmen knapp sind, ist das Niveau für alle gleich niedrig. Ab einem Jahreseinkommen von 45.000 Euro wird der Bürger bereits belastet. Ebenso müßten bei der BV die Leistungssysteme der Arbeitgeber mit 56 Milliarden und die der Beamten mit 52 Milliarden Euro zur Kasse gebeten werden. Weitere Mängel der Bürgerversicherung bestehen unter anderem darin, daß bei diesem System keine Rücklagen gebildet und keine Beitragssenkungen vorgenommen werden können, eine Entkopplung von den Lohnkosten unterbleibt und keine Senkung der Lohnnebenkosten möglich ist.

Einen dritten Vorschlag präsentiert die FDP in Guido Westerwelles Positionsschrift "Für die freie und faire Gesellschaft". Die FDP spricht sich eindeutig für die Systemveränderung der GKV aus. Zu Recht will sie weg vom Verteilungsstaat und hin zum Erwirtschaftungsstaat. Die FDP will ein Bürgergeldsystem, das Einkommensbesteuerung und steuerfinanzierte Sozialleistungen zusammenfaßt. Für die GKV hieße das Überführung in private Gesundheitsverträge.

Unklar bleibt jedoch, wie das für den 50jährigen geregelt wird. Wir haben schon seit 1840 sinkende Reproduktionsraten. Spätestens seit 1972 liegen die Geburtenzahlen immer unter den Sterbefällen in Deutschland. Die Umlagesysteme werden von der Möglichkeit der Einbeziehung der Kinderlosen mißbraucht im Sinne eines Anspruchs auf Kinderlosigkeit. Bei den gut verdienenden, bewußt kinderlosen Doppelverdienern zeigt sich das sehr deutlich. Umlagesysteme belohnen Kinderfeindlichkeit, die Zahl der Kinderlosen und Doppelverdiener steigt. Ein Volk, das seit 34 Jahren Geburtenraten hat wie während des Zweiten Weltkrieges, hat nun zu wenig Beitragszahler. Kinder, die in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht geboren worden sind, stehen nach dreißig Jahren nicht zur Verfügung. Solidarität ist eine Frage der Unterstützung der Schwachen und der Familien durch die Starken. Die Lastenverteilung muß die kinderlosen und einkommensstarken Gruppen stärker in die Pflicht nehmen und die Schwachen und Familien entlasten.

Solidarität ist jedoch eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit. Wer anderen hilft, kann umgekehrt auch Hilfe erwarten. Aufgrund der oben geschilderten Nachteile ist es erforderlich, von der Umverteilungsmentalität Abschied zu nehmen und zu überlegen, wie gesundheitliche Risiken abgesichert werden können, ohne daß von der Krankenversicherung mehr Leistungen bezogen als eingezahlt werden. Die Finanzierung von Wohltaten über die Sozialsysteme an die eigene Wählerklientel muß aufhören.

Wir benötigen mehr Mitbestimmung des mündigen Bürgers bei der Ausgestaltung der Krankenkassenleistungen. Um heute über die Verhältnisse zu leben, veruntreut man seit Jahrzehnten die Zukunft der nächsten Generationen. Die kreditfinanzierten Leistungen von gestern müssen zurückgezahlt werden. Bisher werden nur Zinsen gezahlt. Sie allein machten schon 16 Prozent des Bundeshaushaltes 2005 aus. Die nächsten Generationen werden zu Recht geltend machen, daß sie vom Konsum der letzten Jahrzehnte nichts gehabt haben. Langfristige Investitionen in die Infrastruktur sind unterblieben.

Um den definitiven Kollaps der Krankenversicherung zu vermeiden, ist es erforderlich, die Finanzierung vom Umlageverfahren auf ein Anwartschaftsdeckungsverfahren umzustellen. Beim Anwartschaftsdeckungsverfahren finanziert der Versicherte durch Rückstellungen in jungen Jahren die alterungsbedingten Kostensteigerungen vor, das heißt, jeder baut im Laufe seines Arbeitslebens den Kapitalstock auf, aus dem er im Krankheitsfall seine Leistung bezieht. So ist es denkbar, daß für alle nach 1960 Geborenen ein Zugangsstopp für die GKV eingeführt wird. Diese Personengruppe hat die Pflicht, sich in einer kapitalgedeckten Kranken- und Pflegeversicherung abzusichern. Der kostentreibende Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung entfällt. Es werden Möglichkeiten geschaffen, in denen sich Arbeitgeber gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an der Absicherung ihrer Mitarbeiter beteiligen können, etwa durch eine rein durch den Arbeitgeber finanzierte Krankenzusatzversicherung. Für jeden bisher in die Krankenversicherung eingezahlten Euro werden die Leistungen weiterhin erbracht.

Für die bis 1960 geborenen Krankenversicherten werden die Beiträge nach dem allgemeinen Beitragssatz ihrer Krankenkasse ermittelt und dadurch eventuell Zuschüsse durch Bundessteuern erforderlich. Für diese Jahrgänge wird eine Entgeltumwandlung von Gehalt- und Lohnanteil in Versicherungsleistung, wie es sie schon für Betriebsrenten gibt, für die Zusatzversicherung zur GKV eingeführt. Dies bedeutet eine Umwandlung des Bruttoeinkommens, bei der beispielsweise 50 Euro monatlich sozialversicherungs- und steuerfrei bleiben. Der Eigenanteil liegt in diesem Beispiel bei rund 25 Euro monatlich. Die kostenfreie Mitversicherung von Ehegatten und Kindern entfällt. Nichterwerbstätige, bis 1960 geborene Mütter und bisher Familienversicherte erhalten die Möglichkeit, sich in der GKV als freiwillig Versicherte gegen Eigenbeitrag zu versichern. Für die bis 1960 geborenen Mitversicherten werden Zuschüsse durch Bundessteuern notwendig. Die Versicherten erhalten ein Wahlrecht über die zu versichernden Leistungen und werden Abrechnungsempfänger. Das bisherige Sachleistungsprinzip wird durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt.

Bei Einführung dieser Maßnahmen würde Deutschland wieder zurückkehren zu mehr Unabhängigkeit des mündigen Bürgers von den Parteien und zu Ludwigs Erhards Erfolgsmodell der Sozialen Marktwirtschaft. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft und Zukunftsfähigkeit von uns allen und den uns nachfolgenden Generationen. Geben wir ihnen eine Chance.

 

Michael Lennartz, Jahrgang 1964, ist Ver- sicherungsfachmann (BWV). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das deutsche Rentenversicherungssystem (JF 14/06).

Foto: OP-Szene aus dem Film "Weltverbesserungsmaßnahmen" (2005): Die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherungen dürfen das "Notwendige" nicht überschreiten.


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