© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/06 03. November 2006

Der Wille zum Stil
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Der italienische Regisseur Luchino Visconti wäre hundert geworden
Martin Lichtmesz

Luchino Visconti ist 2006 neben Roberto Rossellini (JF 19/06) der zweite Jahrhundertjubilar unter den Gründervätern des Neorealismus. Auch er hat ein Werk geschaffen, das nachhaltig Filmgeschichte geschrieben hat. Von seinen Kollegen Rossellini und Vittorio de Sica unterscheidet ihn zunächst ein Umstand besonders deutlich: der am 2. November 1906 in Mailand geborene Visconti stammte aus einem Der reichsten und altehrwürdigsten Adelsgeschlechter Europas. Die Linie der Viscontis läßt sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen; ein Urahne der Familie soll der Langobardenkönig Desiderius, der Schwiegervater Karls des Großen, gewesen sein.

Allen finanziellen Sorgen enthoben führte Visconti bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr das Leben eines Dandys, der sich der Malerei und der Pferdezucht widmete, darin Rossellini ähnlich, der jedoch aus dem wohlhabenden Bürgertum stammte. Von Kindheit an war er mit der Welt der Literatur, des Theaters und der Oper intensiv vertraut. Seine künstlerischen Ambitionen wurden zur echten Berufung, als er in Paris Jean Renoir kennenlernte und bei zwei seiner Filme als Regieassistent mitarbeitete. Der Aufenthalt im Frankreich der Volksfront-Regierung, das im Kontrast zum inzwischen cäsaristisch regierten Italien stand, beeinflußte den jungen Aristokraten nach links. Während des Krieges nahm er an antifaschistischen Aktionen teil, die zu einer Gestapohaft führten. 1946 trat er mit einem Bekenntnis zur KPI, der er zeitlebens verbunden blieb, an die Öffentlichkeit. Mit dem von der Partei mitfinanzierten Propagandafilm "Tage des Ruhms" (Giorni di Gloria, 1945), einer Art dokumentarischem Pendant zu Rossellinis "Rom, offene Stadt" (1944/45), half er, den reichlich verlogenen Gründungsmythos (JF 16/06) vom "zwanzig Jahre währenden Widerstand des italienischen Volkes gegen den Faschismus" zu etablieren.

Der Zwiespalt zwischen seinem politischen Engagement und seiner Herkunft, deren Milieu ihm als "das Vehikel faschistischer Bazillen" erschien und in dem er dennoch unwiderruflich verwurzelt war, konstituierte die spezifische Spannung seines Werkes. Waren zunächst Figuren aus der Arbeiterklasse die Helden seiner Filme, so widmete sich sein Spätwerk zunehmend dem Untergang des europäischen Adels. Viscontis Wille zum Stil vereinte beide Welten. Schon seine beiden neorealistischen Meilensteine "Ossessione" (1942) und "Die Erde bebt" (La terra trema, 1948) zeigten seinen Sinn für Dramatik und seinen Hang zu Perfektionismus und strenger Stilisierung. "La terra trema" wurde zu einem kanonischen Manifest des Neorealismus. Der Film war deutlich vom Marxismus beeinflußt, aber nie belehrend. Die Geschichte armer sizilianischer Fischer, die verzweifelt gegen ausbeuterische Zwischenhändler ankämpfen, wurde an Originalschauplätzen und fast ausschließlich mit Laiendarstellern gedreht. Nach einer glänzenden Karriere als Theater- und Opernregisseur drehte Visconti 1954 einen Film, der wie eine 180-Grad-Wendung seiner frühen Arbeiten erschien: "Sehnsucht" ("Senso"), ein in der Zeit des Risorgimento angesiedeltes, starbesetztes Liebesmelodram, zog alle Register in puncto Ausstattung, Kameraführung, Farb- und Musikdramaturgie. Der Regisseur hatte ein überzeugendes filmisches Äquivalent zur großen Oper geschaffen. Dieser Stil erreichte seine Vollendung in der opulenten dreistündigen Lampedusa-Verfilmung "Der Leopard" (Il Gattopardo, 1963). Nach einer kurzfristigen Rückkehr zu Motiven des Neorealismus ("Rocco und seine Brüder", 1962) widmete sich Visconti nun hauptsächlich dem Totentanz jener Epoche, deren später Abkömmling er selber war. Es wurde kein wehmütiger Abgesang, aber auch keine progressistische Abrechnung. Der "Alpdruck der toten Geschlechter" ließ sich nicht durch das Opium des Marxismus lindern. Visconti exorzierte ihn durch schwelgerische, todessehnsüchtige Invokationen im Geiste Prousts, dessen "Suche nach der verlorenen Zeit" zu seinen großen, unrealisierten Wunschprojekten gehörte. Alter egos Viscontis finden sich in Figuren wie dem "Leoparden" Don Fabrizio (dargestellt von Burt Lancaster), dem Komponisten Gustav von Aschenbach in der Thomas-Mann-Verfilmung "Tod in Venedig" (1971) und dem traurigen Bayernkönig "Ludwig II." (1972). Die beiden letzteren Filme waren Teil der sogenannten "deutschen Trilogie", zu der noch die grelle Horror-Oper "Die Verdammten /Götterdämmerung" (La caduta degli dei, 1968) zählt, die den Aufstieg des Nationalsozialismus plakativ mit der von sexuellen Perversionen gepflasterten Dekadenz des Großbürgertums in Verbindung brachte.

Ein finales Alter ego war die Figur des wiederum von Burt Lancaster gespielten "Professors" in "Gewalt und Leidenschaft" (Gruppo di famiglia in un interno, 1974), der sich in seiner mit Büchern und Gemälden vollgestopften römischen Wohnung einsam dem Kulturverfall und dem politischen Chaos widersetzt. Ein konservativer Widerständler und Antifaschist, der im übrigen gewisse Ähnlichkeiten - ausgerechnet - mit dem realen Baron Julius Evola hatte, der im selben Jahr starb, als der Film gedreht wurde.

Ein Eremit auf verlorenem Posten

Der Jet-set-Prominente Visconti, der sich unverhohlen mit seinen Liebhabern wie Udo Kier oder Helmut Berger in der Öffentlichkeit zeigte, war im Grunde ein Eremit auf verlorenem Posten. Er blieb ein "reaktionärer" Linker, wie Antonioni, der sich mit zusammengebissenen Zähnen in die Ortlosigkeit flüchtete (JF 30/06), oder wie Pasolini, der sich zum modernen Archaiker stilisierte (JF 44/05). Der 1968er-Revolte stand er mit Unverständnis und Abscheu gegenüber, wie die Figur des zum Faschismus übergelaufenen, drogensüchtigen Konrad aus "Gewalt und Leidenschaft" unmißverständlich zeigte.

Visconti verabschiedete sich vom Kino mit "Die Unschuld" (L'innocente", 1976), der Verfilmung eines Romans des Fin-de-siècle-Autors und Präfaschisten Gabriele d'Annunzio. Er verstarb nach langer, schwerer Krankheit in seiner Wohnung in Rom am 17. März 1976.


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