© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/06 03. November 2006

Kein Land, in dem Kinder selbstverständlich sind
Ein Sammelband analysiert den demographischen Niedergang in Deutschland und Europa und benennt Ursachen
Hans Schieser

Kinder - weder der Wunsch noch die Wirklichkeit sind Themen, die in den Medien, bei den Bischofskonferenzen und in der Öffentlichkeit ernstlich und konsequent behandelt werden. Freilich, man klagt "demographisch" über die mangelnden Kinder, aber nicht über den Skandal der massenhaften Tötung der Ungeborenen - es dürften im Jahr an die 300.000 sein, das ist die Bevölkerung einer Großstadt, die jedes Jahr fehlt -, und diskutiert "politisch", was man mit den Kindern tun soll. Natürlich kommt man zum Schluß, daß man sie möglichst schnell in eine kollektive Bewahranstalt geben sollte, um die Mütter von der Bürde zu entlasten. Die Wurzeln der Problematik will keiner erkennen und was an "Lösungen" vorgeschlagen wird, ist zumeist "akademisches Stroh" und ideologische Utopie.

Wir haben aber ernstzunehmende Fachleute aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, die nicht nur die Ursachen analysieren, sondern auch Perspektiven für eine Überwindung der Probleme aufzeigen. Überall im Land hört man jetzt ihr Mahnen und Warnen, aber bei den Medien und Politikern wird dies nicht zur Kenntnis genommen, und kaum bei den Kirchen. Gerade die Kirchen sind herausgefordert, ihre Stimmen jetzt vehement zu erheben. So wie der Salzburger Weihbischof Andreas Laun in dem herausragenden Kapitel "Die Aufgabe der Kirche in der demografischen Krise Europas" in dem vorliegenden Band.

Dieser ist auch insgesamt eine gewichtige Stimme in der Diskussion um die gegenwärtige gesellschaftliche Situation. Er entstand zum Teil aus Vorträgen auf dem Symposium der "Konrad-Adenauer-Stiftung" und der "Christdemokraten für das Leben" (CDL) in Berlin, im September 2005. Beiträge von namhaften Autoren ergänzen das weite Themenspektrum. Der Inhalt konzentriert sich zunächst auf Fakten und Analysen der demographischen Krise. Besonders bemerkenswert ist dabei das Kapitel "Feminismus und Bevölkerungskrise" von Jutta Lang. Manfred Spieker betrachtet die bürgerrechtlichen Fragen der Demographiediskussion, der ehemalige thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel und Hartmut Steeb widmen sich politischen und ideologischen Herausforderungen.Schließlich werden kritische, aber konkrete Hinweise auf Lösungsversuche in Österreich, Lettland, Polen und bei uns von kompetenten Fachleuten gegeben, die selbst Kinder haben. Besonders aufschlußreich und wertvoll ist das Kapitel von Douglas da Sylva (USA) über die Ziele und Praxis der Bevölkerungspolitik der Uno, in dem die fragwürdige, ja verheerende Rolle der UNFPA (United Nations Fund for Population Activities) in der Welt dargestellt wird.Im Anhang wird die Rede von Bundespräsident Horst Köhler vom Januar 2006 vor der Evangelischen Akademie Tutzing dokumentiert. Sein Schlußsatz könnte auch über diesem Buch stehen: "Machen wir Deutschland (also) zu einem Land, in dem Kinder selbstverständlich sind ..."

Es fehlen indessen die Stimmen der Ärzte und Pädagogen. Gerade die letztere Disziplin ist es schließlich, die für den erforderlichen "Paradigmenwechsel" die konkretesten Beiträge liefern könnte. Wenn wir in Deutschland auf diesem Gebiet zur Zeit leider nicht viel aufzuweisen haben - es ist bezeichnend, daß der einzige pädagogische Beitrag in diesem Band von einem Polen kommt -, so wären doch vielleicht Christa Meves und Reinhold Ortner geeignete Autoren gewesen. Noch besser wäre es, wenn man des "Altmeisters der deutschen Pädagogik", Friedrich Wilhelm Foerster (gestorben 1966), gedacht hätte. Er hatte erstmals 1904 die Wurzeln der hier behandelten Krise aufgezeigt und ihre heute sichtbaren Auswüchse benannt. Nicht zuletzt hätte ein Hinweis auf das "Standardwerk" zum Thema "Empfängnisverhütung" (Roland Süßmuth, Holzgerlingen 2000) zur Vollständigkeit beitragen können.

In einer eventuellen Neuauflage wäre dies und eine Bibliographie zur Thematik hilfreich. Sie würde auch zeigen, wieviel schon seit 1904 bis heute diskutiert und konkret vorgeschlagen wurde. Es wäre uns vieles erspart geblieben, hätten wir Politiker und Führungskräfte in Kirche und Gesellschaft gehabt, die dies gelesen und in die Tat umgesetzt hätten.

Dennoch ist das vorliegende Buch außerordentlich verdienstvoll. Es sollte Pflichtlektüre sein für unsere Politiker und für alle evangelischen und katholischen Bischöfe, bevor sie die "demographische Krise" und ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Auswirkungen diskutieren.

 

Prof. Dr. Hans Schieser lehrt Erziehungswissenschaft, zuletzt an der DePaul University Chicago, und ist Mitglied im Kuratorium des Forums Deutscher Katholiken

 

Rainer Beckmann, Mechthild Löhr, Stephan Baier (Hrsg): Kinder - Wunsch und Wirklichkeit. Kinder und Familien in einer alternden Gesellschaft. Sinus Verlag, Krefeld 2006, broschiert, 304 Seiten, 14,80 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen