© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

"Gräber sind Erinnerung"
Erwin Kowalke, der "Engel der Gefallenen", birgt unbestattete Soldaten und gibt ihnen ein christliches Begräbnis
Moritz Schwarz

Herr Kowalke, Sie sind Deutschlands bekanntester Gefallenen-Umbetter, das heißt Sie bergen die Gebeine unbestattet gebliebener Soldaten des Zweiten Weltkriegs und sorgen für ein christliches Begräbnis. Zahlreiche Medien haben schon über Sie berichtet, einschließlich des Fernsehens, eben haben Sie das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Kowalke: Zu dieser Bekanntheit hat mir der Umstand verholfen, daß die anderen 28 Umbetter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge (Volksbund) alle im Ausland tätig sind, wo ja die meisten deutschen Gefallenen liegen. Der kürzeste Weg für die Medien, um über unsere Arbeit zu berichten, zum Beispiel wie jetzt zum Volkstrauertag am Sonntag, ist aber natürlich hierher in die Mark, nicht etwa in den Kaukasus. Aber man hat manchmal fast ein schlechtes Gewissen, weil die Kollegen dort eine ganz hervorragende Arbeit machen, die bei uns leider viel zu wenig gewürdigt wird.

Ein einziger Umbetter für ganz Deutschland?

Kowalke: Im Deutschen Reich haben ja erst am Ende des Krieges große Schlachten stattgefunden, im Westen vor allem am Rhein, hier vor allem an der Oderfront. In der Bundesrepublik wurde für die Gefallenen im Westen durch die Bundesländer und den Volksbund gesorgt, in der DDR aber galt bald die Parole, die deutschen Soldaten seien in erster Linie faschistische Täter, und erst kümmerte sich keiner mehr um sie, schließlich, spätestens nach dem Bau der Mauer 1961, war es gar verboten, deutsche Gefallene zu suchen und zu bergen. So sind die Schlachtfelder, etwa auf den Seelower Höhen oder bei Halbe, noch voll mit unbestatteten Gefallenen.

Mit der Bergung der Toten ist Ihre Arbeit allerdings nicht getan.

Kowalke: Die Leute denken, das ist ganz einfach, man geht in den Wald und gräbt die Gefallenen aus. Wir aber müssen feststellen, wer der Tote war, wie der Soldat umkam, wer seine Angehörigen sind, und seine Bestattung organisieren. Etwa fünfzig Prozent unserer Tätigkeit findet "drinnen" statt, also im Büro, in Archiven oder kriminaltechnischen Labors der Polizei.

Wie identifizieren Sie die Gefallenen?

Kowalke: Der Fachmann kann schon an der Fundstelle einige Identitätsmerkmale feststellen: Mit geübtem Blick kann man zum Beispiel am Wuchs der Knochen das ungefähre Lebensalter des Toten abschätzen, oder man kann erkennen, ob er Links- oder Rechtshänder war. Bei beschädigten Knochen kann auf die Todesursache geschlossen werden: Ist zum Beispiel ein Oberschenkel über dem Knie durchgeschlagen, ist der Soldat vermutlich verblutet, weil solch eine Verletzung auch die Hauptschlagader durchtrennt. Kleidung und Ausrüstungsgegenstände können weitere Hinweise geben. Im Idealfall findet man die Erkennungsmarke und das Soldbuch, die manchmal aber nur durch Arbeit im Labor wieder in einen verwertbaren Zustand gebracht werden können.

Ihre Familie wurde 1945 aus Hinterpommern vertrieben, Sie sind in Mecklenburg aufgewachsen. In der DDR war der Volksbund als "revanchistische" Organisation verboten, dort nahmen sich zunächst die Kirchen der Sorge um die unbestatteten Gefallenen an.

Kowalke: In der DDR gab es eine strenge Hierarchie: Ganz oben standen die Opfer der Roten Armee, dann die "Opfer des Faschismus", dann die jüdischen Opfer, und so ging das weiter. Die gefallenen deutschen Soldaten rangierten ganz unten auf dem letzten Platz.

Sehen Sie auch in der Bundesrepublik eine Opferhierarchie? An welcher Stelle stehen die Weltkriegssoldaten bei uns?

Kowalke: Ich denke da zum Beispiel an den Besuch Schröders 2004 in der Normandie zum sechzigsten Jahrestag der alliierten Landung. Zwar war er auch am Grab eines unbekannten deutschen Soldaten, aber warum mied er die Gräber der gefallenen Soldaten der Waffen-SS?

Sie meinen seine Weigerung den Soldatenfriedhof La Cambe zu besuchen, wo 21.000 deutsche Soldaten liegen, darunter 5.000 der Waffen-SS.

Kowalke: Als ob man Zigtausende von Menschen über einen Kamm scheren kann, nur weil sie die gleiche Uniform trugen. Einer meiner eigenen Verwandten war Waffen-SS-Mann. Er entging zweimal knapp der Erschießung, weil er sich weigerte, Geiseln hinzurichten. Mein Gott, Schröders Verhalten heißt doch nichts anderes, als Tote zu bestrafen! Außerdem waren viele der armen Bengels erst 17, als sie sich gemeldet haben, und viele andere wurden gezogen. Nein, wenn ein deutscher Bundeskanzler es ablehnt, einen Friedhof zu besuchen, weil dort auch Jungens der Waffen-SS liegen, kann ich das nicht gutheißen.

Ist das nur ein Problem unseres ehemaligen Bundeskanzlers?

Kowalke: Ich habe in all den Jahren meiner Tätigkeit nicht einen einzigen normalen Bürger kennengelernt, der gesagt hätte: "Laß die mal besser auf dem Feld liegen!"

Wie erklären Sie sich die Mediendebatte seit 2003 über die Frage, ob Deutsche wie Bombenkriegsopfer und Vertriebene überhaupt als Opfer betrachtet werden dürfen?

Kowalke: Das steht vielleicht in den Zeitungen so, von den normalen Bürgern habe wir immer nur gehört: "Gott sei Dank, daß sich jemand um die Toten kümmert." Ich frage: Was ist denn ein Soldat? Machen Soldaten die Kriege? Nein. Sie führen sie. Gemacht werden sie von den Politikern! Deshalb ist es zu billig, zu sagen, die Soldaten sind die Verbrecher und Faschisten.

"Mörder", "Vernichtungskrieger", "willige Vollstrecker" ersetzt bei uns den DDR-Terminus "Faschisten".

Kowalke: Nehmen Sie doch mal einen Mann wie den Fliegeroberst Rudel, der im Zweiten Weltkrieg einige hundert Feindpanzer vernichtet hat. Natürlich hätte er sich sicher auch mal fragen müssen, wie viele Menschen er dabei umgebracht hat. Andererseits waren das aber auch Hunderte Panzer, die nicht mehr gegen Deutschland schießen konnten! Und wie vielen seiner Kameraden hat er damit das Leben gerettet? Man sieht, das ist ein Spannungsverhältnis - da kann man nicht einfach sagen: Alles Verbrecher!

Könnte man sagen, sechzig Jahre nach dem Krieg hat unsere Gesellschaft immer noch keinen Frieden geschlossen - mit unseren Soldaten?

Kowalke: Neulich habe ich einen Vortrag von einem Initiator der Wehrmachtsaustellung gehört. Tenor: Alles eine einzige Verbrecherorganisation. Ich habe ihn in der anschließenden Diskussion gefragt, wie er es sich denn erkläre, daß wir vom Volksbund in den Ländern, die von der Wehrmacht besetzt waren, heute Hunderte von einheimischen freiwilligen Helfern finden, um deutsche Soldatenfriedhöfe anzulegen. Antwort: keine. Erst das große Wort als Ankläger führen, und wenn man nach Argumenten fragt: Fehlanzeige! Der deutsche Soldat - und das haben mir russische Veteranen gesagt - war in diesem Krieg der Soldat, der am meisten betrogen worden ist. Denn er ist für die unglücklichste Sache der Welt in den Kampf gezogen und dort vierheinhalb Millionen Mal umgekommen. Russen, Amerikaner, Engländer, sie alle konnten sich später sagen, sie haben für ihr Vaterland gekämpft. Nur der Deutsche standen nach Kriegsende mit einem Mal vor dem Nichts einer großen Lüge. Was das bedeutet, machen sich viele, die die damals jungen Leute heute verurteilen, nicht klar.

Warum haben Sie sich die Ehrung und Erinnerung an die Kriegstoten zur Lebensaufgabe gemacht?

Kowalke: Als es in der DDR schon verboten war, noch Gefallene zu bergen, sagt mein Schwiegervater, der im Krieg als Sanitäter gedient hatte und ein menschliches Erbarmen fühlte, aber selber schon krank und asthmatisch war: "Komm einmal mit, da liegen zwei, die holen wir noch raus." Also sind wir los, leise, im Dämmerlicht. So hat das angefangen. Wir haben uns dann in der DDR-Zeit im Auftrag der Kirche um die Pflege schon bestehender Soldatenfriedhöfe gekümmert, zu deren Erhalt Ost-Berlin ab 1972 mit dem Beitritt zur Genfer Konvention auch vertraglich verpflichtet war. Dennoch hing das vom jeweiligen Rat des Kreises ab. Es gab Behörden, die uns unterstützten, wir haben aber auch erlebt, daß wir regelrecht rausgeworfen wurden. Viele Soldaten-Friedhöfe in der DDR waren in einem völlig verwahrlosten Zustand.

Auch in der Bundesrepublik verfallen zahlreiche Gefallenendenkmäler und werden Soldatengräber geschändet. Der Volksbund beklagt eine wachsende Zahl solcher Vorkommnisse. Politik und Öffentlichkeit nehmen aber kaum hörbar Anstoß daran.

Kowalke: Das ist natürlich nicht in Ordnung. Und gerade Politiker sollten sich um Gefallenengedenkstätten kümmern. Generell sollten Politiker ab und an über einen Soldatenfriedhof geführt werden, damit sie sich im klaren darüber sind, welche Konsequenzen ihre Entscheidungen haben können. Für mich ist ein Soldatenfriedhof ein Gottesacker, und ein christliches Begräbnis ist der erste Schritt für das ewige Leben. Für mich ist es eine Frage der inneren Verpflichtung, keinen Soldaten je ohne geistlichen Beistand unter die Erde gebracht zu haben. Interessant übrigens, daß die Russen, mit denen ich ab 1990 zusammengearbeitet habe, dafür viel Verständnis hatten - obwohl ihre Rote Armee doch traditionell atheistisch war. Die Russen haben eben ein ganz anderes Bewußtsein für ihre Kriegstoten und oft mehr Verständnis für die deutschen Gefallenen gezeigt als viele Deutsche selbst.

Sehen Sie Anzeichen dafür, daß sich dies auch einmal wieder ändern könnte?

Kowalke: Ich halte ja viele Vorträge, auch an Schulen. Dann frage ich die Kinder nach ihrem Urgroßvater. Ich erkläre ihnen, daß das der Mann ist, von dem sie abstammen und ohne den es Opa oder Oma, Papa oder Mama und sie selbst gar nicht geben würde. Auf einmal wird den Kindern bewußt, wie wichtig dieser Mensch ist. Und plötzlich verstehen viele, warum wir die Gräber und damit die Erinnerung an diese Generation bewahren.

 

Erwin Kowalke hat bis heute rund 20.000 gefallene Soldaten des Zweiten Weltkriegs eigenhändig geborgen und beerdigt. Geboren wurde der sogenannte "Engel der Gefallenen" 1941 im pommerschen Hygendorf. Der gelernte Schreiner wuchs in Mecklenburg auf, diente zwei Jahre bei der NVA und pflegte ab 1980 im Auftrag der Evangelischen Kirche Gefallenenfriedhöfe in der DDR. 1990 wurde er der für Deutschland zuständige Gefallenen-Umbetter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Diese Aufgabe erfüllte Kowalke bis zu seiner Verrentung 2003 haupt-, seitdem mit gleichem Einsatz ehrenamtlich.

Kontakt und Information: Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Werner-Hilpert-Straße 2, 34112 Kassel, Telefon: 0180 / 570 09 99, Im Internet: www.volksbund.de 

 

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