© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

BRIEF AUS BRÜSSEL
Fortsetzung des Erweiterungswahns
Andreas Mölzer

Wie aus der "Erweiterungsstrategie" der Kommission hervorgeht, wird die EU ihren Erweiterungswahn auch künftig wohl unvermindert fortsetzen. Denn Brüssel hat es wieder einmal verabsäumt, die maximal mögliche Ausdehnung der EU nach geistig-kulturellen Kriterien verbindlich festzulegen, was zugleich ein Ende des Türkei-Abenteuers bedeutet hätte.

Wie sehr die EU-Polit-Nomenklatura die Erweiterung als Wert an sich betrachtet, bestätigt die Aussage, wonach die letzte, überhastete Erweiterungsrunde nicht nur ein "beträchtlicher Erfolg" gewesen sein soll, sondern darüber hinaus auch zur "Belebung der Wirtschaft" beitragen werde. In Deutschland oder Österreich spürt man bislang jedoch nur einen verstärkten Druck auf den Arbeitsmarkt. Und von der "Steigerung des Wohlstands in der Union" ist nur in den neuen EU-Staaten etwas zu bemerken, die sich üppiger - von den Nettozahlern finanzierter Subventionen - erfreuen.

Dennoch wird der Erweiterungszug mit unverminderter Geschwindigkeit in Richtung des sogenannten Westbalkans rasen. Dabei ist das Versprechen Brüssels, in Zukunft verstärkt auf die Einhaltung der Beitrittskriterien durch die Kandidatenländer und auf die Aufnahmefähigkeit der EU achten zu wollen, nicht mehr als eine Beruhigungspille für die besorgten Bürger. Und weil deren Erweiterungsskepsis zunimmt, wälzt die Zentrale im fernen Brüssel schon Pläne, die Propagandamaschinerie anzuwerfen. Schließlich müßten die Bürger über die Vorteile der Erweiterungspolitik "informiert" werden. Über die unzähligen und tiefgreifenden Probleme, welche die Erweiterungsfanatiker bisher verursacht haben, schweigt die Kommission bezeichnenderweise.

Die Länder des "Westbalkans" (die Nachfolgestaaten Jugoslawiens mit Ausnahme Sloweniens sowie Albanien) sind kulturhistorisch betrachtet ein Teil Europas. Zu berücksichtigen sind jedoch ihre teilweise doch recht großen Unterschiede. Während das mitteleuropäisch geprägte Kroatien, das bereits heute beitrittsreif ist, so rasch wie möglich in die EU aufgenommen werden sollte, muß bei den übrigen erst die Zukunft weisen, wann diese EU-reif sein werden.

Serbien beispielsweise ist zweifelsfrei ein europäisches Land, aber wegen seiner vielfältigen Probleme ist es noch zu früh, um bereits jetzt über einen EU-Beitritt zu sprechen. Und welche Entwicklungen Bosnien oder Mazedonien, zwei Balkanstaaten mit einer zahlenmäßig besonders starken und wachsenden moslemischen Bevölkerung, einschlagen werden, ist heute noch ungewiß.

Besonders bedenklich ist die offenkundige Tendenz Brüssels, die Frage der Erweiterung mit jener der EU-Verfassung zu verknüpfen. Wenn die Kommission in ihrer Erweiterungsstrategie von der Notwendigkeit institutioneller Reformen spricht, dann sollen die Gegner der EU-Verfassung unter Druck gesetzt werden. Natürlich ist die EU mit bald 27 Mitgliedern an der Grenze ihrer Funktionsfähigkeit angelangt.

Aber um einen aufblähungsbedingten Stillstand zu vermeiden, braucht man nicht den zentralistischen Verfassungsvertrag, den die Bürger ohnedies ablehnen, sondern einen europäischen Grundlagenvertrag, der auch die Möglichkeit zur Schaffung eines Kerneuropas vorsehen sollte.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen