© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Ritter trinken Wodka
Annäherung: Ein Berliner Symposium zu Königsberg
Wiebke Dethlefs

Die Osterweiterung der EU am 1. Mai 2004 hat die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Nord-Ostpreußens, des heutigen Kaliningrader Gebiets, tiefgreifend verändert; die Grenzen der Exklave zu Polen und Litauen sind nun EU-Außengrenzen. Zweieinhalb Jahre später und ein Jahr nach der Übernahme des Gouverneursamts durch Georgi Boos in Kaliningrad versuchten am 6. November die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und das Deutsche Kulturforum östliches Europa unter Einbeziehung auch russischer Gesprächspartner eine Bestandsaufnahme.

Danach befindet sich Russisch- Ostpreußen im Aufbruch, seine Industrieproduktion ist seit 1994 um 295 Prozent gestiegen, während der russische Durchschnitt nur etwa 200 Prozent Steigerung seit damals aufweist. Die Kreditwürdigkeit des Kaliningrader Gebiets ist innerhalb aller 89 russischen Verwaltungseinheiten (Oblaste) seit 2004 vom 25. auf den 16. Platz gestiegen. Fast anderthalb Millionen Tonnen Waren im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar sind 2005 aus dem Gebiet exportiert worden.

Doch ist nach Meinung des stellvertretenden Wirtschaftsministers des Kaliningrader Gebiets, Wladimir Kuzin, für den weiteren Aufschwung hemmend, daß sich die EU bisher nicht für die Kaliningrader Wirtschaft geöffnet hat. Dienstleistungen und selbst qualitativ hochwertige Industrieprodukte aus Kaliningrad sind außerhalb des Gebiets nicht am Markt. Die hohen Hürden bei der Visaerteilung für EU-Staaten, speziell für Deutschland, die auch für die Kaliningrader bis dato nur in Moskau erfolgt, und die eingeschränkte Freizügigkeit ist einer Annäherung keineswegs dienlich. Andererseits bestehen zumindest für die Einreise nach Litauen und Polen erleichterte Bedingungen, da kostenlose Jahresvisa für jeden Einwohner in Kaliningrad bei den Konsulaten beantragt werden können. Weißrußland ist trotz mancher Verstimmung mit Moskau stets kooperativ und ermöglicht einen unbürokratischen Transit.

Gouverneur Boos' erstes Amtsjahr war durch zahlreiche höchst vitale "Transformprozesse", wie sich Kuzin ausdrückte, gekennzeichnet (so hat er ein großangelegtes Bevölkerungsprogramm initiiert, nach welchen durch Zuwanderung aus anderen Teilen Rußlands und aus Staaten der vormaligen Sowjetunion die Bevölkerung des Königsberger Gebiets von einer auf über drei Millionen wachsen soll). In diesem Kontext wurde im Januar 2006 auch eine Sonderwirtschaftszone Kaliningrad ins Leben gerufen, die beispiellose Steuervorteile bietet. Wer wenigstens 150 Millionen Rubel (etwa 4,5 Millionen Euro) investiert, braucht sechs Jahre keine Vermögen- und Grundsteuer bezahlen, für weitere sechs Jahre bleiben die Steuern um die Hälfte reduziert.

Das Königsberger Gebiet ist durch ein Memorandum 1994 seit langem mit dem Land Brandenburg verbunden. Brandenburger mittelständische Unternehmer sind in Kaliningrad tätig, es bestehen zahllose gemeinsame kulturelle, soziale und humanitäre Projekte. Diese Zusammenarbeit hat bedeutend zur wirtschaftlichen und sozialen Konsolidierung beigetragen. Königsbergs deutscher Generalkonsul Guido Herz betonte, daß alle negativen Vorurteile gegenüber dem Gebiet, wie sie noch vor zehn Jahren bestanden, inzwischen widerlegt sind. Kaliningrad habe wieder Tritt gefaßt. Es herrsche Vollbeschäftigung und sogar Arbeitskräftemangel, selbst an ungelernten Kräften. Die Inflationsrate sei die niedrigste aller russischen Verwaltungsbezirke.

Der Investitionsboom, der durch die Vorbereitungen zur 750-Jahr-Feier 2005 einsetzte, hält weiterhin an. Im Südosten der Stadt ist ein neues Wärmekraftwerk entstanden, von der berühmt-berüchtigten Gaspipeline zwischen Deutschland und Rußland wird ein Abzweig direkt nach Kaliningrad verlaufen, die neue Fluglinie KD-AVIA verbindet die Stadt mehrmals in der Woche mit Berlin.

Wird die Stadt wieder zur "Weltbürgerrepublik", wie sie es schon im 18. und 19. Jahrhundert war, wie es der Historiker Jürgen Manthey formulierte? Laut Herz bestehe eine "gute Stimmung" in der Stadt, es gebe weder Xenophobie noch Antisemitismus und auch keine Berührungsprobleme mit der deutschen Geschichte mehr. Biere heißen "Königsberg" oder "Ostmark", ein Deutschordensritter wirbt für Wodka, und die kleinen Unterlegschilder unter den Kfz-Kennzeichen, auf denen der jeweilige Autohändler genannt wird, schmücken sich ebenso mit "Königsberg".

Kein Wunder, daß Wladimir Putin der Provinz große Bedeutung beimißt und auch an einen Wiederaufbau des Königsberger Schlosses denkt, zumindest der äußeren Form nach. fünfzig Millionen Euro hat die Moskauer Zentralverwaltung dafür bereitgestellt. Allerdings bleiben die ländlichen Regionen bei dieser stürmischen Entwicklung außen vor. Das alle Ressourcen aufsaugende Kaliningrad hinterläßt fernab der Stadt größte soziale Probleme, die ein geplantes Hilfsprogramm der Föderation lindern helfen will.

Fazit: Königsberg/Kaliningrad ist trotz aller Schwierigkeiten auf die politisch-wirtschaftliche Bühne Europas zurückgekehrt. Die Zukunft der Stadt und des Gebiets bewegt nicht nur alte Ostpreußen, wie der völlig überfüllte Saal in der Brandenburgischen Vertretung in Berlin zeigte. Die Stadt gewinnt eine Brückenfunktion zwischen den Kulturen, nicht nur über ihre geographische Position, auch über ihre bis 1990 tabuisierte Vergangenheit. Selbst eine Rückbenennung der Stadt ist nach Meinung des Vorsitzenden der Gebietsduma, Igor Bulytschow, möglich, wenn die Bevölkerung das möchte. Eine anwesende russische Journalistin wünschte sich das für ihre Geburtsstadt spontan.


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