© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Der Verrat am Eigenen
Joachim Taubers Annäherungen an das Phänomen Kollaboration bleiben zu monothematisch
Horst Rohde

Eben weil Kollaboration ein moralisches Verdikt bedeutet und bis heute ein politisch-emotionaler Kampfbegriff geblieben ist, tut sich die Geschichtsschreibung schwer, das Phänomen zu beschreiben und zu analysieren." Nichts unterstreicht diese Feststellung des Herausgebers Joachim Tauber, Osteuropahistoriker am Hamburger Nord-Ost-Institut in dem hier vorzustellenden Sammelband deutlicher als schon ein grober Überblick über dessen Inhalt. Ja, man kann sich sogar nicht des Eindruckes erwehren, als ob die Verfasser der einzelnen Beiträge geradezu gewetteifert hätten, um Tauber bestätigen zu können.

Der Leser findet insgesamt 29 Ausarbeitungen sehr heterogener Art vor, zumeist auf Vorträgen einer Tagung basierend, die bereits im Jahre 2003 stattfand. Dies ist insofern erwähnenswert, als die Forschung auf so manchem Gebiet intensiv weitergangen sind, wie einzelne Autoren sogar ausdrücklich vermerken, Literaturhinweise jedoch nur in Einzelfällen jüngeren Datums sind. In die Reihe der erwähnten Tagungsvorträge sind - wiederum nach Angaben des Herausgebers - weitere Beiträge "eingeworben" worden, "um die Fragestellung zu vertiefen und zu erweitern".

Dabei wird allerdings nicht kenntlich gemacht, welche Abhandlung zu welcher Kategorie gehört. Das wäre allein schon deswegen nicht uninteressant, weil man sich bei so manchem der vorgelegten Beiträge ernsthaft fragen muß, was er mit der ursprünglichen Thematik der zugrunde liegenden Tagung überhaupt zu tun haben könnte, die da lautet: "Fremdherrschaft und Kollaboration - Erscheinungsformen in Nordosteuropa 1900-1950". Mag diese erste Einschätzung zunächst auch noch sehr "formalistisch" erscheinen, so erhält sie doch alsbald größeres Gewicht dadurch, daß man vielfach den Eindruck gewinnen muß, als ob so mancher Aufsatz nur deswegen aufgenommen worden sei, um bestimmte Tendenzen, die dem überwiegenden Teil des Tagungsbandes ohnehin innewohnen, noch zu verstärken.

Dies gilt vor allem für das Bestreben, die Kollaboration in der Hauptsache als eine auf Deutschland zu beschränkende Erscheinungsform der Kriegführung darzustellen. So beschäftigen sich allein mehr als zwanzig der aufgenommenen Beiträge ganz oder überwiegend mit der deutschen Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg. Wichtige andere Themen wie beispielsweise die russische Besetzung Polens und des Baltikums vor dem Ersten Weltkrieg, die polnische Vorgehensweise gegenüber der Ukraine, Weißruthenien oder Litauen nach 1918, die sowjetischen Einmärsche in Finnland, Polen und dem Baltikum im Zweiten Weltkrieg sowie die Ereignisse in den sogenannten Warschauer-Pakt-Staaten nach 1945 werden entweder völlig oder weitgehend verschwiegen.

Alles dies dient ganz offensichtlich dem Zweck, sich auf das Thema "deutsche Besatzungsgreuel" im Zweiten Weltkrieg konzentrieren zu können. Alles andere, was sich nicht in dieses Schema einordnen läßt, ist mehr oder weniger schmückendes Beiwerk. Dies gilt auch und ganz besonders für das eigentliche Thema dieses Buches, also für die Kollaboration, deren Beschreibung überwiegend nur dazu dient, zu verdeutlichen, daß es sich dabei nicht auch um lebensnotwendige, verständliche oder gar positive Erscheinungsformen in einem Krieg handeln konnte, sondern allein um einen "allumfassenden Ausdruck einer verwerflichen Beziehung zur deutschen Besatzungsmacht und zum Nationalsozialismus im allgemeinen" - so faßt es Kauber nochmals zusammen.

Doch damit noch nicht genug: Die entsprechenden Darstellungen werden auch häufig - direkt oder indirekt - dazu benutzt, um zusätzlich zu den zweifellos in deutschem Namen ausgeübten Verbrechen viele weitere negative Klischees vor allem auch im Hinblick auf die Wehrmacht zu präsentieren oder zu erneuern, die längst widerlegt oder zumindest stark anzuzweifeln sind. Zum anderen ist nicht selten die Tendenz spürbar, die "Einmaligkeit" deutscher Schuld in den Vordergrund zu rücken und mit diesen und anderen Mitteln die Verbrechen oder Vergehen anderer Staaten im Zweiten Weltkrieg - und hier insbesondere der Sowjetunion - zu negieren oder zumindest zu verharmlosen. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß häufig in den entsprechenden Beiträgen unbedenklich Literatur zitiert und als Beleg verwendet wird, die noch aus der Zeit des Warschauer Paktes stammt.

Zusammenfassend sei daher gesagt: Der hier besprochene Sammelband hält weder hinsichtlich seines räumlichen noch seines zeitlichen Rahmens das, was sein Titel verspricht. Doch viel mehr ist noch zu kritisieren, daß hier sehr ausführlich eine - allerdings auch recht einseitige - Geschichte deutscher Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg anstelle einer Geschichte der Kollaboration mit all ihren Entstehungsursachen, Erscheinungsformen und Folgen dargeboten wird.

Ungeachtet der Tatsache, daß einzelne Beiträge des vorgestellten Buches in Gänze oder in Teilen interessante und anregende Informationen zu unterschiedlichen Themen vermitteln, wird mit dem Werk insgesamt ein neuerlicher Beweis dafür erbracht, daß es auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts immer noch nicht zur Normalität zählt, daß Themen des Ersten und vor allem des Zweiten Weltkriegs vorurteilsfrei, ausgewogen und differenziert behandelt werden.

Joachim Tauber, Hrsg.: Kollaboration in Nordosteuropa. Erscheinungsformen und Deutungen im 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Nordost-Instituts. Band 1. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2006, 478 Seiten, gebunden, 38 Euro

 

Dr. Horst Rohde, Oberstleutnant a.D., arbeitete als Militärhistoriker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MFGA) in Freiburg.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen