© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Eine etwas fremde Antike
Globalisierte Griechen
Tino Klein

Mit der Verfassungsdebatte, die unter deutscher EU-Präsidentschaft 2007 wieder aufleben soll, dürfte auch die Frage nach der "Identität" Europas neue Textberge provozieren. Nachdem sich das Problem christlicher Identität offenbar erledigt hat, da die Verfassungspräambel mit Rücksicht auf die vor der Tür stehende Türkei davon schweigt, scheint nur der Rekurs auf das antike Erbe leidlich konsensfähig.

Wieviel Antike der Europäer des 21. Jahrhunderts benötigt, ist für den Klassischen Archäologen Salvatore Settis (Pisa) jedoch nicht ausgemacht. Gewiß ist für ihn nur die Diskrepanz, die sich auftut zwischen omnipräsenter Berufung auf das griechisch-römische Erbe und rasantem Abbau kultureller Kompetenz, derer man zu seiner Erschließung bedarf. Die Nischenexistenz des humanistischen Gymnasiums im deutschen Bildungssystem ist hierfür nur sinnfälliges Beispiel.

Bevor Settis versucht, die künftige Orientierungsrelevanz der Antike zu bestimmen, wandert er weit zurück in die Geschichte europäischer Antikerezeption. Erst seit Winckelmann sei das "klassische Altertum" gleichbedeutend mit dem idealisierten Griechenland des perikleischen Zeitalters. Erst mit dieser "Erfindung" sei die "Klassik" also gemeinsame Wurzel "abendländischer Kultur". Hegel habe daher sagen können, beim Namen Griechenland fühle sich jeder gebildete Europäer sofort heimisch.

Für Settis sind diese Traditionsbestände erschöpft. Maß und Richtung vermag ein retrospektiv dem Altertum implementierter Kanon moralisch-ästhetischer Werte nicht mehr zu geben. Was die Antike unter Globalisierungs- und Migrationsdruck noch bieten könne, sei ihre "Fremdheit". Sich mit ihr auseinanderzusetzen, sei daher eine heute unverzichtbare Einübung in das Verständnis "anderer Kulturen". Ob Settis seinem Anliegen damit nicht einen Bärendienst erweist? Denn warum sollte das gymnasiale Curriculum den steinigen Umweg über griechische und lateinische Grammatik machen, wenn "interkulturelle Kompetenz" das Lernziel sein soll? Die ließe sich durch den Ausbau der "politischen Weltkunde" oder besser noch eine neue Unterrichtseinheit "Völkerkunde" viel müheloser vermitteln.

Salvatore Settis: Die Zukunft des "Klassischen". Eine Idee im Wandel der Zeiten, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2005, 108 Seiten, gebunden, 19,50 Euro


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen