© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/06 17. November 2006

Frisch gepresst

Fortschrittsfreund. In der politischen Publizistik galten "Ostjuden" spätestens seit Heinrich von Treitschkes Wort von den "hosenverkaufenden Jünglingen", die beängstigend schnell zu Macht und Einfluß gelangten, als Triebkräfte des Umsturzes. Autobiographische Dokumente, zumal aus dem 19. Jahrhundert, die sich eignen, um ein etwas differenzierteres Bild zu zeichnen, sind eher selten. Insoweit kommt den "Erinnerungen" von Joseph Berkowitz Kohn, die Gertrud Pickhan und Ulrich Bauche herausgegeben haben (Ein Leben als polnischer Freiheitskämpfer und hamburgischer Sozialdemokrat 1841-1905. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2006, 154 Seiten, broschiert, Abbildungen, 17,80 Euro), ein besonderer Quellenwert zu. Kohn wurde 1841 im russisch beherrschten Königreich Polen geboren und liefert als Augenzeuge des polnischen Aufstands von 1863 einen der wenigen Belege über den jüdischen Anteil an dieser schnell niedergeworfenen Erhebung. Als politischer Flüchtling kommt Kohn nach Hamburg, wo er sich in das in norddeutschen Bürgerrepubliken traditionell fortschrittlich gesonnene Milieu geradezu mustergültig "integriert". Er wird Kaufmann und für die sozialistische Internationale engagierter Sozialdemokrat. Als solcher wird er in den Dossiers der hansestädtischen Polizei ab 1890 als "socialistischer Agitator" geführt.

Rückzugsstrategie. Ob Abtreibung oder Sterbehilfe, Ladenschluß oder Homo-Ehe - immer wieder ist es der christliche Glaube, der für Menschen in bestimmten politischen Fragen leitend ist. Da Christen damit nicht immer auf Gegenliebe stoßen, geschweige denn im Raum "öffentlicher Vernunft" zu überzeugen vermögen, empfiehlt der Züricher evangelische Theologe Stefan Grotefeld, der seit kurzem an der Universität Göttingen lehrt, nun den geordneten Rückzug: Zwar müsse man religiöse Überzeugungen nicht "per se" einer Selbstbeschränkung unterwerfen, doch sollten sich Christen in der Öffentlichkeit stets um eine "für andere akzeptable Rechtfertigung" bemühen, rät Grotefeld in seiner Habilitationsschrift. Eine Position, die sich in weiten Teilen der protestantischen Welt lebhafter Zustimmung erfreuen wird oder bereits als feste Maxime eifrigen Handelns die Praxis bestimmt (Religiöse Überzeugungen im liberalen Staat. Protestantische Ethik und die Anforderungen öffentlicher Vernunft. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2006, 391 Seiten, broschiert, 39,80 Euro).


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