© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/06 24. November 2006

"Das ist hier normal"
Warum der Wrangelkiez ein kulturelles, kein soziales Problem ist
Moritz Schwarz

Wer den in die Schlagzeilen geratenen Wrangelkiez besucht, dem fällt kaum etwas Bedrohliches auf. Recht "adrett" wirkt gar die Ecke, wo sich die Attacken gegen die Polizeibeamten ereigneten: Einzelhändler, Kopfsteinpflaster, Bäume. Doch da sind die Jungs, die am Straßenrand sitzen. Zunächst unauffällig, ein, zwei, offensichtlich ausländischer Herkunft, dann ein Grüppchen, bald hat sich ein ganzer Pulk versammelt. Das ist es, was im Wrangelkiez passiert: Nicht Tristesse und blankes Elend, Verwüstung und Verwahrlosung des öffentlichen Raums, wie man es aus den USA kennt, zeigen hier den Verfall der Ordnung an. Die Horde Jungs, die plötzlich die Wrangelstraße dominiert, ist wohlgenährt, trendig gekleidet und ausgestattet mit Mobiltelefonen. Die Situation erinnert an den Fall der Rütli-Schule. Die Berliner Problemschule machte im April Schlagzeilen, als die Lehrer dort aus Verzweiflung über Chaos, Anarchie und Gewalt den Unterricht einstellten. Wer den Ort des Geschehens besuchte, war überrascht: eine ruhige, grüne parkartige Gegend. Ein gediegener wilhelminischer Bau, Kopfsteinpflaster, saubere Straßen.

Der offensichtliche Verfall der Ordnung findet in gepflegter Umgebung statt. Es handelt sich trotz der hohen Arbeitslosigkeit nicht wirklich um einen sozialen Verfall, sondern um die Abwesenheit einer verbindlichen Kultur, den Verfall einer verbindlichen Autorität. Was hier passiert, wird klar, wenn man die Jugendlichen reden hört: "Das waren doch noch Kinder, die die Polizei da verhaften wollte." Haben sie nicht einen anderen Jungen überfallen? "Ach, wegen einem MP3-Spieler, das ist doch hier normal." Da sprechen keine "Verdammten dieser Erde", sondern Menschen, die nicht mehr wissen, was öffentliche Ordnung und Autorität überhaupt ist. "Wir haben nichts gegen die Polizei, wir haben Respekt vor ihr, wenn sie Respekt vor uns hat." Immerhin - in ihrer Welt sind den Beamten also noch Höflichkeitsbesuche im Kiez erlaubt.

Ob man, wie im Oktober, die Feuerwehr im Einsatz behindert, weil die nicht so löscht, wie man es für richtig hält, oder wie im November einen Sanitäter angreift, weil der nicht so rettet, wie man sich das vorstellt, oder nun im Fall des Überfalls auf die Kiezschule (siehe Seite 4), die Polizei von der Strafverfolgung für entbunden erklärt, weil die nicht so ermittelt, wie gewünscht, immer ist diese eigentümliche Ignoranz gegenüber jeder anderen Autorität als der der eigenen Gruppe zu spüren - ein dem Mitteleuropäer völlig unbekannter Tribalismus. Hier wirkt ganz offensichtlich eine gruppenbezogene kulturelle Prägung, die in Deutschland über die Jahrhunderte durch das Entstehen staatlicher Instutionen und einer bürgerlichen Gesellschaft ausgestorben ist.

Um so erstaunlicher, daß davon in der Mediendebatte nichts zu hören ist. Die einzige etablierte Stimme, die diese ethno-kulturelle Größe anspricht, ist der SPD-Mann Heinz Buschkowsky: Ursache, so der Berliner Bezirksbürgermeister, sei zum einen "der Werteverfall, der dazu führt, daß staatliche Ordnung nicht mehr akzeptiert wird" sowie die - wie er die kulturelle Prägung volkstümlich nennt - "südländische Mentalität der Migranten".

 

Pariser Verhältnisse in Berlin?

21. April, Berlin-Kreuzberg: Polizeibeamte werden im Wrangelkiez nach Messerstecherei von über 100 Anwohnern bedroht und angegriffen.

25. April, Berlin-Wedding: Beamte im Einsatz wegen einer Ruhestörung werden von 70 Jugendlichen umringt, bedroht und attackiert.

29. April, Berlin-Wedding: 20 Männer aus einem türkischen Lokal befreien einen eben Verhafteten aus Polizeigewahrsam.

10. Mai, Berlin-Kreuzberg: Nach einer Festnahme müssen Beamte Schußwaffen und Schlagstöcke gegen eine Menschenmenge einsetzen.

1. August, Berlin-Wedding: 50 Türken beschimpfen Polizisten als "Nazi-Schweine" und attackieren sie.

11. Oktober, Berlin-Reinickendorf: Als Beamte eine Massenschlägerei beenden wollen, werden sie von 30 Jugendlichen angegriffen.

27. Oktober, Berlin-Kreuzberg: 200 Ausländer bedrängen die Feuerwehr im Einsatz. Löscharbeiten können nur mit Polizeischutz fortgesetzt werden.

14. November, Berlin-Kreuzberg: Im Wrangelkiez werden Beamte bei einer Verhaftung aus einer vorwiegend ausländischen Menge attackiert.

15. November, Berlin-Moabit: Nach einem Verkehrsunfall werden Feuerwehr und Polizei im Einsatz aus einer Menschenmenge bedrängt.


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