© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/06 01. Dezember 2006

Pankraz,
Deep Fritz und das Ende des Schachspiels

In der Bonner Kunsthalle läuft zur Zeit ein Schachspiel, das zum Endspiel für die eine Seite werden könnte und zum Trauerspiel für die internationale Schachgemeinde insgesamt: das Turnier des derzeitigen Schachweltmeisters Wladimir Kramnik gegen das Computerprogramm "Deep Fritz" Nummer 7. Kramnik, sagt Pankraz voraus, wird verlieren oder höchstens (so gerade noch mal) ein Remis erreichen, wie bisher alle seine kaum minder genialen Kollegen auch. Künftig werden in der höchsten Klasse nur noch Computer gegeneinander spielen, und bald wird es mit dem Spiel gänzlich zu Ende sein, weil es nur noch einen einzigen Computer gibt, "Deep Fritz" Nummer 10 oder 20, der alle möglichen Züge von vornherein in sich trägt.

Die Anzahl der möglichen Stellungen im Schach wird mit etwa 2,5 mal 1040 angegeben, die Anzahl der möglichen Spiele überhaupt mit 10120. Das sind natürlich gigantische, im Grunde völlig unvorstellbare Dimensionen, doch es bleiben trotzdem bloße Quantitäten, abzählbare Mengen, und wenn man bedenkt, wie schnell sich die Speicherkapazität und die Abzählgeschwindigkeit der Schachcomputer in den letzten Jahren vermehrt hat, kann man absehen, daß menschliche Gehirne da sehr bald nicht mehr werden mithalten können.

Unser Gehirn ist eben keine bloße Abzähl- und Rechenmaschine, es operiert intuitiv und strategisch und bezieht von daher seine größten Erfolge. Zwar vermag es sich bei Bedarf in hohem Maße "binär" zu verhalten, d.h. sich auf reines Entweder/Oder-Denken zu orientieren, aber bei einem Kampfspiel wie dem Schach, das - außer auf Entweder/Oder - auf einem kompletten binären Regelwerk aufbaut, ist es den modernen Maschinen hoffnungslos unterlegen.

Es setzt unverdrossen auf raffinierte "Strategien", die den Gegner in die Irre führen und zu Fehlern verleiten sollen. Aber dieser Gegner, die Maschine, denkt gar nicht daran, sich auf derlei Strategien einzulassen (weil er gar nicht denken kann), er spult stur sein Abzählprogramm ab und klinkt nicht minder stur bei der entsprechenden Zählposition ein. Etwas anderes ist ihm nicht beizubringen.

Das "Glück", das Glückhaben, das an sich zu jedem echten Spiel dazugehört, ist im Schachcomputer total ausgeschaltet, genau im Gegensatz zum Menschen. In den modernen, für Menschen und nicht zuletzt für Schachspieler entwickelten mathematischen Spieltheorien steht die Vermischung von Kampfspiel und Glückhaben geradezu im Mittelpunkt. Diese Theorien sind ausdrücklich darum bemüht, den Zufall, das Los, das Schicksal, irgendwie in den Griff zu bekommen, sein Einwirken zu minimieren, einen Zufallsgenerator zu schaffen, mit dem man zumindest Wahrscheinlichkeiten fixieren kann. Mathematische Spieltheorie und somit auch die Kalküle der Schachmenschen sind großenteils Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Selbst Schachgroßmeister, die das binäre Entweder/Oder-Denken komplett verinnerlicht haben, bleiben dabei immer noch Menschen. Sie setzen beim Überlegen der nächsten Züge automatisch den Zufallsgenerator in Gang, sinnen auf Optimierungsstrategien, versuchen, sich von den Absichten der Gegenseite eine Vorstellung zu machen, denken in "Zügen". Darin besteht ja das Wesen des Schachspiels: daß man "Züge" macht, Operationen vornimmt, bei denen sowohl der momentane Nutzen als auch der Nutzen in Hinblick auf den Gesamtsieg möglichst genau abgeschätzt werden.

Aber "Deep Fritz" und andere Schachcomputer kennen weder Züge noch Strategien, sie "kennen" einzig und allein das Regelwerk und beim aktuellen "Spiel" die jeweilige Stelle, bei der sie als Antwort auf den vorgegebenen Zug des Großmeisters einklinken müssen. Dieser indessen, der Großmeister, wird sich nie mit der simplen Mitteilung abfinden, daß er lediglich eine Funktion des Regelwerks ist. Auch wenn man es ihm noch so oft erklärt, wird er weiterhin strategisch denken. Und wie sollte er auch anders? Der ganze Sinn seines Spiels hängt an diesem Denken. Sein Spiel verlöre gewissermaßen die Seele, wenn es anders wäre.

Leider aber ist es anders. Denn das Schachspiel, diese wundersame, farbenreiche und von heroischem Kampfeslärm durchtoste Erfindung des Orients, die speziell in Europa auf solche Höhen der Intuition und der "genialen Züge" gebracht wurde - es ist in seiner absoluten Form gar kein richtiges Spiel. In ihm haben weder Genialität noch (geistige und auch körperliche) Höchstleistung einen Platz, und das "Glück", der Zufall, das Schicksal spielen auch keine Rolle. Alles ist nur ein Klapperatismus von Bits und Bytes.

Bisher wurden die Berichte über große Schachereignisse in den Medien entweder unter der Rubrik "Sport" oder unter der Rubrik "Kultur" geführt oder unter beiden. Sehr bald wird nun nur noch die Rubrik "Technik und Motor" zuständig sein, je nach dem, wie schnell es gelingt, Schachcomputer zu konstruieren, die mit Größenordnungen von 10100 umgehen können. Es genügen aber auch schon Geräte mit der Leistungsfähigkeit 1040. Kein menschliches Gehirn wird je solche Speicherkapazitäten und Abrufgeschwindigkeiten erreichen.

Im Augenblick ist es noch so, daß das strategisch denkende Gehirn gegen die derzeitigen Computer ("Deep Fritz" Nummer 7 u.a.) gute Chancen hat, wenn es möglichst viele "taktische" Züge macht, die unterhalb der Rechentiefe liegen. Strategie gerinnt zu bloßer Taktik, für welche sich besonders die Dame eignet. Es kommt darauf an, der Maschine so früh wie möglich die Dame wegzunehmen, auch wenn dafür massenhaft Bauern und Offiziere geopfert werden müssen.

"Ladies to the front!" Auch hier also. Man erreicht dadurch freilich nur einen Aufschub. Künftig werden in der Schach-Oberklasse tatsächlich nur noch Computer gegen Computer spielen; auch das hat schließlich einen gewissen Unterhaltungswert. Und es fördert zudem die Computerspiel-Industrie. Kampfspiele, Gewaltspiele haben Konjunktur.


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