© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/06 01. Dezember 2006

Rückblick ohne Larmoyanz
Ein als Werwolf verdächtigter Jugendlicher schildert seine Deporation nach Sibirien
Wilhelm Hankel

Das russische Wort Pazan steht für Werwolf. Werwolf war neben den Wunderwaffen das Phantasieprodukt fanatischer Nationalsozialisten, als der Krieg verloren und das Land schon halb besetzt war: im Westen von den Westalliierten, im Osten von den Russen. Bruno Plaschke, bei Kriegsende ein 15jähriger Schüler und Bauernbub in Schlesien, wird kurz vor seinem 16. Geburtstag im Juni 1945 von KGB-Offizieren unter den Augen seiner entsetzten Eltern verhaftet und einem peinlichen Verhör unterzogen. Sie wissen "alles", denn die Mutter eines von ihm verprügelten Klassenkameraden hat ihn denunziert.

Er sei ausgebildeter Partisanenkämpfer gewesen, eben ein Pazan, und habe seine Pistole im elterlichen Garten vergraben. Bruno ist schuldig, bevor er den Mund aufmacht. Und als er seinen Verhörern erklärt, er habe die Waffe "weggeworfen", hat er sein Schuldbekenntnis unterschrieben. An seinem 16. Geburtstag wird er wegen "Spionage und Sabotage in Vorbereitung und Gruppenbildung" zu zehn Jahren Zwangarbeitslager verurteilt. Acht davon wird er in sich abwechselnden Gefängnissen, Arbeitslagern, in Massentransporten auf offenen LKW und in überfüllten Viehwaggons unter Hunger, Läusen, brutalen Mithäftlingen und kaum zu beschreibenden hygienischen und sanitären Verhältnissen zwischen Polen, Rußland und dem fernen Sibirien absitzen und überleben. Als er am 27. Juni 1953, seinem 24. Geburtstag, für ihn überraschend vorzeitig in die DDR entlassen wird und zu seinen in die Bundesrepublik geflohenen Eltern zurückkehren darf, geht für ihn der Alptraum zu Ende, der die besten Jahre seiner Jugend lang seine kaum zu beschreibende Realität gewesen ist.

Plaschke erzählt sie unterkühlt, nüchtern ohne Larmoyanz und Sentimentalität und ohne Haß auf seine Peiniger. Wo Solschenizyn durch faktenbelegte Dichtung die Schrecken des Archipel Gulag wiederauferstehen läßt, tut es in Plaschkes schmucklosem Bericht die minutiös im Stil eines Tagebuchs festgehaltene Wahrheit. Der Autor hat nichts zu verbergen oder - wie andere, prominentere Autoren - zu verbiegen. Er hat sich nicht freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, sich aber auch nicht gewehrt, als ihn Respektpersonen (der örtliche Forstmeister, seine HJ-Führer) dazu aufforderten, wie damals üblich monatelang Schanzarbeiten zu leisten und an Ausbildungskursen zur Heimatverteidigung teilzunehmen. Die dilettantische Vorbereitung zum Werwolf-Kämpfer hat ihn in den Augen der sowjetischen Abwehroffiziere zum echten gemacht. Der Junge vom Land wurde unschuldig schuldig und büßte für jene, die wirklich schuldig waren, gleich mit.

Plaschkes Buch verdient es nicht nur, an deutschen Schulen zur Pflichtlektüre erklärt zu werden, sondern auch deutschen Dichterfürsten und Fernsehmoderatoren als Vorbild zu dienen, wie man mit der Geschichte der NS-Zeit und den Verstrickungen umgeht, die damals allen, sogar Halb-erwachsenen, drohten.

Bruno Plaschke, an einem anderen Ort und unter anderen Umständen in Deutschland aufgewachsen, zur Schule gegangen und mit anderen Erziehern und Respektpersonen in Kontakt gekommen - wie beispielsweise sein altersgleicher Rezensent - wäre ein anderes Schicksal beschieden gewesen. Und ein anderer Lebenslauf. Er hat für alle Deutschen etwas erlebt, was zwar nicht alle erleben, aber doch alle erfahren und wissen sollten: wie es jedem nach 1945 hätte ergehen können. Deswegen ist "Pazan" ein möglichst großer Leserkreis zu wünschen.

Bruno Plaschke: Pazan. Geraubte Jugend im Gulag 1945 - 1954. Agenda Verlag, Münster 2006, 444 Seiten, broschiert, 36 Euro


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