© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/06 08. Dezember 2006

Das Lavieren beenden
Nato in der Krise: Nationale Interessen lassen sich nicht wegdebattieren
Michael Paulwitz

Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen." Diese Binsenweisheit der internationalen Politik, mal Otto von Bismarck, mal Charles de Gaulle zugeschrieben, gilt gestern wie heute, sie gilt für alle Länder und Nationen und für bilaterale Beziehungen ebenso wie für die Zusammenarbeit in supranationalen Institutionen. Daß beim Gipfeltreffen der Nato-Mitglieder im lettischen Riga so wenig herauskam und in diskussionsarmer Atmosphäre die Gegensätze nur mühsam übertüncht werden konnten, hängt ursächlich mit dieser Erkenntnis zusammen.

Wozu also dient uns der Nordatlantikpakt? Nato-Leute antworten darauf gern mit griffigen Kraftsprüchen. Das fing schon mit dem ersten Generalsekretär Lord Ismay an. Für ihn war das Bündnis noch dazu da, in Europa "die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten" zu halten. Das war der Kalte Krieg. Für die Zeit danach gab US-Senator Richard Lugar Anfang der Neunziger die zeitgemäße Parole aus: "out of area or out of business" - entweder Einsätze weltweit oder gar keine Aufgabe mehr. Mit solch flotten Sprüchen im Gepäck überwand das Bündnis zunächst scheinbar mühelos die Sinnkrise nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, expandierte in den ehemals sowjetisch dominierten Raum hinein und gierte nach globalen Aufgaben. Die freilich erwiesen sich als zähes Brot. Inzwischen ist die Nato zutiefst ratlos, wie es weitergehen soll.

Der Prüfstein, an dem sich die Zukunft des Bündnisses entscheidet, ist der Afghanistan-Einsatz, das trotz zuerkannter "Schlüsselpriorität" wohlweislich nicht ausdiskutierte Hauptthema des Gipfeltreffens. Grundlage des Einsatzes war seinerzeit ein fein ausbalancierter Kompromiß: Die US-geführte Operation "Enduring Freedom" schafft Ruhe im Land, die Nato-Truppe Isaf stabilisiert und sichert den Wiederaufbau.

Diese konsensorientierte Theorie scheitert soeben an der harten afghanischen Realität. Ein Land ohne Verwaltungsapparat und Zentralgewalt läßt sich eben nicht einfach so besetzen und aus dem tribalistischen Mittelalter in die repräsentative Demokratie katapultieren. Und man kann dort genausowenig ein bißchen Krieg führen, wie man ein bißchen schwanger werden kann.

Der Preis für die Korrektur früherer Illusionen muß allerdings nicht in wohlfeilen Deklamationen, sondern in kostbaren Menschenleben bezahlt werden. Hinter dem Schönwettergerede der wohltönenden Konferenzpapiere stellt sich daher für jedes einzelne Nato-Mitglied unbarmherzig die Gretchenfrage: Welche nationalen Interessen stehen beim eigenen Nato-Engagement auf dem Spiel, und welchen Einsatz sind sie wert?

Die amerikanische Strategie liegt einigermaßen klar zutage: Die Nato soll zur globalen Polizei umgebaut werden und als faktische und von Washington leichter zu lenkende Ersatz-Uno fungieren. Das weltweite Engagement ist dabei nicht Selbstzweck, sondern dient der Absicherung bestehender und dem Aufbau neuer Versorgungswege für Rohstoffe und Energie. Senator Lugar hat dies in seiner Rede in Riga reichlich direkt ausgesprochen. Scheitert Afghanistan, scheitert auch diese Strategie. Das zu verhindern, ist Washington einiges an Opfern wert. Auch die Verbündeten sollen dazu ihren Teil entrichten.

Kanadier und Briten brauchen davon nicht lange überzeugt zu werden: Sie definieren ihr nationales Interesse auf denselben Bahnen. Im Fall Großbritanniens überwiegt die Gefolgschaftstreue sogar die schlechte Erfahrung aus den eigenen verheerenden Niederlagen in drei gescheiterten Afghanistan-Feldzügen im vorvergangenen Jahrhundert.

Lugars energiepolitisches Argument sticht hingegen insbesondere bei den ost- und südosteuropäischen Staaten, die kaum zufällig in den letzten Jahren in großer Zahl unter amerikanischer Protektion der Nato beitreten konnten und noch immer im Wartesaal Schlange stehen. Der Rigaer Gipfel sprach weitere Ermunterungen aus und erklärte Erweiterungsmüdigkeit zum EU-spezifischen Problem. Das "neue Europa", die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und Sowjetrepubliken, die der energie- und sicherheitspolitischen Rückversicherung gegen Moskau vitale Bedeutung beimessen, sind für die amerikanische Strategie eine leidlich sichere Bank.

Weiter westlich wächst die Skepsis. Ihr sichtbarer Ausdruck sind die nationalen Vorbehalte, die die Einsatzmöglichkeiten einzelner Kontingente beschränken und für deren Aufhebung Washington bislang vergeblich wirbt. "Dabeisein" ist für Franzosen, Spanier, Italiener eher Prestigefrage als vitales Eigeninteresse.

Und Deutschland? Bisweilen scheint es, als seien wir die einzigen, die glauben, es gehe in Afghanistan und anderswo tatsächlich nur um den Kampf gegen den Terror und um die Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten. Solche Universalismen taugen schlecht zur nationalen Interessenbestimmung, auch wenn sie formal als solche daherkommen: Die offizielle Begründung, Deutschland werde eben auch am Hindukusch verteidigt, kann die zwingende Nachfrage, warum das denn gerade da zu geschehen habe, nicht beantworten.

Die Stammtischstrategen auf Regierungs- und Kommentatorensesseln, die dafür trommeln, dem amerikanischen Druck nach stärkerem Engagement in Kampfeinsätzen nachzugeben - man wüßte gerne, wie viele dieser Säbelraßler selbst gedient haben -, vergessen gern die Kernfrage: Stehen tatsächlich so vitale nationale Interessen auf dem Spiel, daß sie die Knochen auch nur eines gesunden Grenadiers wert sind? Wenn ja, müssen Opfer in Kauf genommen werden, um notfalls eine Niederlage abzuwenden. Hat man dagegen Zweifel, an der richtigen Front zu stehen, muß man den ehrenvollen Abgang suchen, bevor es zu spät ist. Dazwischen zu lavieren, ist Feigheit vor dem großen Bruder.

Die Nato geht derzeit einen gefährlichen Weg, der direkt in die imperiale Überdehnung zu führen droht. Die in Riga einsatzbereit gemeldete schnelle Eingreiftruppe ist ein zweischneidiges Schwert. Je weiter sich der Operationsradius des Bündnisses vom ursprünglichen geopolitischen Raum entfernt, desto größer wird der Interessendissens unter den Mitgliedern. Als Weltpolizist könnte es daran zerbrechen. Die Zukunft der Nato liegt daher in der territorialen Beschränkung auf die Ordnung des europäischen Raumes. Es liegt auf der Hand, daß just hier auch das nationale Interesse Deutschlands als kontinentaler Mittelmacht liegen muß.


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