© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

"Unsere Gesellschaft duldet alles"
Interview: Warum stößt Gunther von Hagens' Leichenhaus kaum auf Widerstand? Der Philosoph Walter Hoeres sieht in dem Plastinarium das häßliche Spiegelbild der Gesellschaft
Moritz Schwarz

Herr Professor Hoeres, ist das Gubener Plastinarium ein Museum "wie jedes andere auch"?

Hoeres: Wenn Museen Orte sind, an denen man sich bildet, zur Erinnerung an die - immer auch eigene - Geschichte geführt wird und zur Ehrfurcht vor der Schönheit der Natur und den nahezu unerschöpflichen Möglichkeiten des menschlichen Geistes und der Kunst, dann ist Gunther von Hagens' Gubener Plastinarium das genaue Gegenteil eines Museums.

Es stellt also einen Tabubruch dar?

Hoeres: Die Neuzeit sieht die Natur nicht mehr als Schöpfungsordnung, sondern als immer weiter zu bearbeitenden und vernutzenden Rohstoff. Schon Descartes, der "Vater der neuzeitlichen Philosophie", bezieht auch den Leib des Menschen in diese Betrachtungsweise ein, insofern als die Organismen seiner Ansicht nach nicht wirklich leben, sondern allenfalls funktionierende Automaten sind. Zugleich damit wird, wie Horkheimer diese Entwicklung definiert, das Reich der Zwecke immer kleiner und das der Mittel immer größer. Nur das wird akzeptiert, was wiederum Mittel zu irgendeinem Nutzeffekt ist, und in dieser Diktatur der Nützlichkeitsbetrachtung muß auch der Leib des Menschen zur Erzeugung von Gruseleffekten herhalten.

Ist der eigentliche Vorwurf aber vielleicht gar nicht von Hagens zu machen, sondern der Gesellschaft, die so etwas duldet?

Hoeres: Unsere Gesellschaft von Agnostikern, die nichts so sehr scheut wie weltanschauliche Überlegungen, religiöses Engagement, kurzum Begeisterung für Ideen oder gar große Ideen, und nichts so erbittert verteidigt wie das eigene, sozusagen kurzfristige Wohlbefinden, duldet nahezu alles - eben wenn es das eigene Wohlbefinden nicht stört.

Also hält uns von Hagens nur den Spiegel vor?

Hoeres: Sehen wir von Platon ab, für den der Leib das Gehäuse der (Geist-) Seele ist, dann hat sein Schüler Aristoteles jene menschliche Grunderfahrung am besten getroffen, die dann auch die abendländische und darüber hinaus die europäische Tradition bestimmt hat. Danach ist die Seele die prägende Form des Leibes und drückt sich in ihm aus. Das veranschaulichen die Phänomene des Mienenspiels, des Lächelns, der Mimik also, und all unserer "sprechenden" Gesten. Theologisch vertieft und überhöht wird diese Grunderfahrung durch die Lehre, daß der Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, daß Gott uns innewohnt. Demgegenüber bietet uns das liberale Menschenbild gar keine Alternative, die der Ehrfurcht vor dem Menschen und seinem Leib gerecht wird, und tendiert daher immer schon zu einem subkutanen Materialismus, wie er in der Rede zum Ausdruck kommt, daß der eben gezeugte Mensch nichts anderes als ein amorpher Zellhaufen sei.

Also handelt es sich um einen Angriff auf das Christentum?

Hoeres: Zweifellos, und das sollten gerade unsere progressiven Theologen berücksichtigen, die der christlichen und kirchlichen Tradition oft genug vorwerfen, sie habe in einseitiger Sorge für die "Seelen" zu sehr die genuin christliche Wahrheit vernachlässigt, daß der Mensch eine Einheit aus Leib und Seele sei.

Was wäre Ihre Forderung an Medien, Öffentlichkeit und Politik?

Hoeres: Die Forderung an Öffentlichkeit und Politik besteht darin, den Mut zu haben, sich nicht länger den Forderungen der Political Correctness zu beugen und das Schlagwort von der sogenannten "Freiheit der Kunst" zu überdenken, um diese endlich mit der Forderung des Grundgesetzes in Einklang zu bringen, die unantastbare Würde des Menschen zu achten.

 

Prof. Dr. Walter Hoeres, Jahrgang 1928, promovierte 1951 bei Theodor W. Adorno und lehrte an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau Philosophie.

Fotos: Eine Mitarbeiterin des Plastinariums in Guben bereitet eine Leiche auf die Plastinierung vor (links). Mit der sogenannten Menschensäge können die Körper dann in Scheiben geschnitten werden (unten links). Auf einem Regal werden den Besuchern Hunderte Totenschädel in Reih und Glied präsentiert: "Die Körperscheiben sind so schön wie Kirchenfenster"

 

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