© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/06 15. Dezember 2006

Pankraz,
Oscar Wilde und die Parade der Opfer

Gehört hat es Pankraz noch nicht, aber einige PC-Aufseher haben schon ein Zetermordio darüber angestimmt. "In der Jugendszene", so melden sie, beschimpfe man sich gegenseitig nicht mehr vorrangig mit "du Esel" oder "du Schwuchtel", vielmehr mit "du Opfer" Als "Opfer" tituliert zu werden, sei heutzutage das Schlimmste, was einem Mitglied egal welcher Jugendgruppe passieren könne. In dem Wort bündelten sich Hohn, Verachtung und Verdammung.

Wenn das stimmt, ist es wirklich Ausdruck drastischster Umwertung. Denn bisher kam dem Opfer über die Zeiten hinweg stets höchster Respekt zu. Wer zum Opfer wurde, der war gottgesalbt, heiligmäßig, was immer er vorher im Leben gewesen sein mochte. Das freiwillige Opfer, das Selbstopfer, bewunderte man, für das unfreiwillige hatte man zumindest Anteilnahme übrig. Noch den gehaßtesten Kriegsgefangenen etwa bei den Azteken wuchs, wenn sie den Göttern geopfert wurden, eine Gloriole zu, Verzeihung und Aufnahme in die Gemeinschaft der guten Leute.

Üblicherweise opferte man nicht simple Kriegsgefangene, sondern einen Teil vom Besten und Liebsten, das man hatte. Jephta opferte seine Tochter, Abraham war drauf und dran, seinen Sohn Isaak zu opfern. Und Gott selbst opferte, wie ja nicht nur Christen wissen, seinen "eingeborenen Sohn", um das Höchste zu vollbringen, das überhaupt denkbar ist: die Erlösung de Welt vom Übel, die Rettung der Seelen aller Gläubigen.

Man muß schon weit heruntergekommen sein, um diese Konstellation, gewissermaßen eine Dauerkomponente menschlicher Existenz, schlichtweg umzudrehen und das Opfer plötzlich als schimpfliche Mißgestalt und lächerliche Witzfigur hinzustellen, über die man nur noch schimpfen kann. Der Fall, wenn es sich denn um einen handelt, ist im höchsten Maße degoutant. Doch er kommt nicht von ungefähr. Nicht seelische Verrohung aus heiterem Himmel liegt ihm zugrunde, sondern törichtes und verlogenes Reden in der Erwachsenenwelt, dem die Jugend zuhört, zuhören muß.

Es laufen gegenwärtig - um es knapp und präzise zu sagen - zu viele Zeitgenossen herum, die als "Opfer" posieren und daraus gesellschaftlichen Nutzen zu ziehen versuchen, ohne sonst etwas dafür zu leisten. Immer mehr Gruppen bezeichnen sich als "Opfergruppen" bzw. "potentielle Opfergruppen", obwohl sie sichtlich alles andere als Opfer sind, nicht einmal etwas Teures und Liebes geopfert haben und auch in Zukunft nichts zu opfern gedenken.

Alles, was sie vorzuweisen haben, ist der Hinweis darauf, daß ihre jeweilige Gruppe in der Vergangenheit durch Gewaltaktionen gruppenfremder Kräfte Verluste, schwere Verluste erlitten hat. Zugute kommt ihnen dabei der Umstand, daß unsere Sprache keinen Unterschied macht zwischen wirklichen Opfern, nämlich den Objekten und Zeremonien heiliger Handlungen, und profanen, mag sein dramatischen, Tötungsfällen. Im Englischen gibt es die (freilich nicht immer ganz klare) Differenz zwischen "sacrifice" und "victim". Im Deutschen spricht man bei Tötungsfällen, sogar bei Verkehrs- und anderen Unfällen, generell von "Opfern". Das Wort verliert dadurch vollständig seinen originären Sinn.

So gibt es Kriegsopfer, KZ-Opfer, Bombenopfer, Terroropfer, Kolonialzeitopfer usw., aber bei keinem dieser Toten handelt es sich um wirkliche Opfer. Sie wurden entweder ermordet, bei Zwangsarbeitseinsätzen "verbraucht" oder fielen in der Schlacht, sie kamen bei blindwütigen Selbstmordanschlägen ums Leben oder wurden durch Guerillas aus dem Hinterhalt abgeschossen. Indes, geopfert im genauen etymologischen Sinne wurden sie gerade nicht.

Wie steht es mit denen, die sich selbst "zum Opfer darbringen", sich also aus Glaubensgründen oder um dem Vaterland zu dienen usw. sehenden Auges zu Aktionen melden, bei denen sie mit Sicherheit das eigene Leben verlieren werden? Sind sie Opfer, gar "Märtyrer", ein Titel, den die islamischen Selbstmordattentäter ja für sich beanspruchen? Auf den ersten Blick sieht es so aus. Das Leben der Attentäter wird von der Gemeinschaft, der sie sich zuzählen, schlankweg hingegeben, fast wie in archaischen Opferzeremonien, als man sich vom Menschenopfer praktischen Nutzen für die übrigen nebst Segen von oben versprach.

Freilich, diese Art von modernem Menschenopfer will, wie bekannt, keineswegs anderen Menschen das Leben bewahren, im Gegenteil, möglichst viele weitere Menschen sollen von dem Attentäter zu Tode gebracht werden. Der Vorgang ist von vornherein als Todesorgie angelegt und somit nur eine schreckliche Karikatur dessen, was man wortgenau unter Opfer verstehen darf. Man kann dergleichen nur mit Oscar Wilde kommentieren, der in seinen "Sätzen und Lehren zum Gebrauch für die Jugend" voller Sarkasmus schrieb: "Selbstaufopferung sollte polizeilich verboten sein. Sie wirkt so demoralisierend auf die Menschen, für die man sich opfert."

"Demoralisierend" ist überhaupt das richtige Wort für das, was gegenwärtig hierzulande beim Reden über Opfer passiert. Entweder spielen sich Absahner und Karriereritter als Opfer auf, oder asymmetrische Glaubenskrieger, die bei Lichte betrachtet nichts weiter als Mordmaschinen sind, beanspruchen Opfer- und Märtyrerstatus. Und zu alledem gibt es, eifrig gefördert von den überall herumwuselnden psychologischen "Betreuern" und "Consultern", in der Erwachsenenwelt schon lange die Tendenz, daß sich buchstäblich jedermann als Opfer fühlt, als Opfer der Gesellschaft, als Opfer der Zustände, als Opfer von sonstwas.

Man braucht sich dann nicht zu wundern, wenn Jugendliche das komisch und fremdländisch finden und ihre Witze darüber machen. Wenn es ein Wort verdient hat, in den frechen Jugendjargon aufgenommen zu werden, und zwar auf der Negativseite, so das Wort "Opfer". "Du Opfer" - das heißt nichts weiter als: "Du bist ein Jammerlappen, ein Abzocker und einer, dem man alles einreden kann und der auf die dümmsten Sprüche hereinfällt. Geh uns aus der Sonne!"


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